Es
ist immer einfach, das Unbekannte zu erklären, indem man das Walten einer
übermenschlichen und eigenmächtigen Kraft postuliert. Das ist ein sehr
menschliches Phänomen.
Isaac Asimov
Das
Problem liegt nie sosehr darin, einen Schlüssel oder zwei oder drei oder n Schlüssel zu finden,
sondern eine Sprache zu sprechen, welche der Joker Rechnung trägt.
Michel Serres
Es lässt sich heute eine weit verbreitete Faszination an Paradoxien aller Art beobachten. Das gilt nicht nur für systemtheoretische und postmoderne Ansätze, sondern gesamtgesellschaftlich – unabhängig davon ob sich diese Faszination aus einer Vorliebe oder aus der Ablehnung paradoxer Formulierungen ergibt. Das liegt möglicherweise daran, dass sich aus dem Umgang mit Paradoxien sehr viel über Kommunikation und damit unter anderem auch über die Funktionsweise der Gesellschaft erfahren lässt. Im Zuge dieser Beschäftigung mit Paradoxien kam es jedoch zu einer Distanzierung, Ironisierung, Relativierung und Dekonstruktion sehr vieler sinnhafter Orientierungspunkte in Form von sozial geteilten Semantiken. Egal wie es geschieht, in jedem Fall wurde den kritisierten Semantiken ihre soziale Funktion abgesprochen. Stattdessen hält man nun die Paradoxie selbst für den neuen Orientierungspunkt. Damit wurde allerdings semantischer Beliebigkeit und Willkür der Weg bereitet, was die sozialen Verstehens- und Verständigungschancen minimiert und das Konfliktpotential ebenso stark erhöht hat.
Man kann diese Faszination an Paradoxien aber auch als ein Interesse an Negativität interpretieren. Dann kann man vermuten, dass dieses Interesse möglicherweise ein gewisses Bedürfnis nach Transzendenz befriedigt. In vormodernen Zeiten konnten sich für dieses Thema noch die Religionen zuständig erklären und gleichsam ein Diskursmonopol beanspruchen. In der entzauberten Welt der Moderne füllt die Psychologie die entstandene Lücke mehr schlecht als recht aus. Statt dabei zu helfen, die innere Widersprüche zu lösen, belässt sie es häufig bei der Pflege dieser Widersprüche. Hauptsache man ist wieder genussfähig, wenn man schon nicht funktioniert. Funktionieren dürfen die Anderen. Die postmoderne Bewegung konnte nach der wissenschaftlichen Entzauberung der Welt nur noch einen allgemeinen Sinnverlust beklagen. Wobei man den Verdacht nicht los wird, dass lediglich der Verlust der eigenen Illusionen beklagt wird. Die Lösung sieht die Postmoderne in der Flucht in die Subjektivität. Widerspruchsfreiheit lässt sich aus der postmodernen Perspektive offenbar nur noch durch die narzisstische Besetzung der Welt erreichen, um das Leiden an ihr zu lindern. Die Kontingenz anderer Perspektiven dient nur zur zweifelhaften Begründung, sich nicht mehr mit ihnen auseinandersetzen zu müssen. Umso radikaler werden dann andere Perspektiven abgelehnt, obwohl man sich zugleich nach Diversität sehnt. Das sorgt für einige Unruhe.
Der naive Umgang mit Paradoxien ist heute sehr weit verbreitet und hat sich zu einer Art sozialen und psychischen Reflexions- und Entwicklungsblockade entwickelt. Diese geistige Verwahrlosung führt derzeit zur Verhärtung der Frontlinien. Die Sozial- und Geisteswissenschaften haben, indem sie sich für politische Zwecke einspannen ließen, auch ihren Teil dazu beigetragen, dass es so weit kommen konnte. Speziell deren Beitrag lässt sich zum großen Teil durch das Fehlen einer Theorie über Negativität erklären. Das politische Engagement ist nur eine Verlegenheitslösung, um mit diesem Defizit umzugehen. Es gibt viele Vermutungen, Hoffnungen und Befürchtungen über Negativität. Aber eine ausgearbeitete Theorie steht nicht zur Verfügung. Selbst den für Paradoxien sensibilisierten Systemtheoretikern ist das nicht gelungen. Bisher fehlte auch ihnen jegliches Problembewusstsein.
Vor diesem Hintergrund erscheint es umso notwendiger dem Thema Negativität mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Der folgende Text ist eigentlich ein Ergebnis meiner Auseinandersetzung mit George Spencer-Browns »Gesetze der Form« (1999 [1969]). Der Fokus liegt aufgrund der geschilderten Probleme auf der Funktion von Negationen und Negativität für Beobachtungs- bzw. für Erkenntnisprozesse. Negationen und Negativität sind erst an zweiter Stelle ein kommunikationstheoretisches Problem. Zu aller erst sind sie kognitionswissenschaftliche und erkenntnistheoretische Probleme. Auf derselben Ebene ist die im Folgenden vorzustellende Beobachtungstheorie angesiedelt. Der Ausgangspunkt ist die Frage: für welches Problem kann Unterscheiden als Lösung betrachtet werden? Diese Frage wurde trotz des funktionalistischen Ansatzes in der neueren soziologischen Systemtheorie bis heute nicht gestellt. Dieser Text konzentriert sich auf die Beantwortung dieser Frage.
Als Erstes wird die Quintessenz des Textes vorgestellt, welche ich als die »Regeln der Form« bezeichne. Spencer-Browns »Gesetze der Form« sind keine strenge Theorie über Negativität. Sie erlauben es aber mit Negativität zu kalkulieren. Etwas Ähnliches versuche ich mit den »Regeln der Form« – allerdings ohne einen neuen Kalkül zu präsentieren. Es geht nicht darum Spencer-Browns Kalkül zu ersetzten. Es soll lediglich ein anderer Blick auf das Problem der Negativität geworfen werden. Auch bei den »Regeln der Form« handelt es sich nicht um eine Theorie über die Funktion von Negativität, sondern um Anweisungen für den Umgang mit Negativität bzw. mit Nichts. Die Theorie, die diesen Regeln zu Grunde liegt, wird in den nachfolgenden Erläuterungen vorgestellt.
Negativität wird darin als Unterschiedslosigkeit begriffen. Ohne Unterschiede, die Unterschiede machen, kann es weder Informationen noch Sinn geben. Die Lösung für das Problem der Unterschiedslosigkeit ist dementsprechend Unterscheiden. Es kann aber nicht nur darum gehen, dass unterschieden wird, sondern wie unterschieden wird. Anhand des Umgangs mit Unterschiedslosigkeit werden drei Beobachtungsweisen voneinander unterschieden. Im Zuge dessen wird außerdem gezeigt, dass der Umgang mit Unterschiedslosigkeit eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von komplexen Beobachtungsformen spielt. Der strikt an der Beobachtung von Veränderungen und Entwicklungen orientierte Ansatz erlaubt es am Schluss eine evolutionäre Beobachtungstheorie anzudeuten.