Donnerstag, 28. November 2013

Die Beobachtung der Beobachtung 3.1 – Funktionale Differenzierung



In den ersten beiden Teilen der Reihe „Die Beobachtung der Beobachtung“ wurde der Beobachtungsbegriff, wie er von Niklas Luhmann ab seinem ersten Hauptwerk „Soziale Systeme“ (1984) entwickelt wurde, weiter präzisiert. Ausgangspunkt war die Annahme, dass der Kommunikationsbegriff und der Beobachtungsbegriff [1] innerhalb von Luhmanns Systemtheorie stärker gegeneinander differenziert und integriert werden müssen, denn die theoretische Beziehung der beiden Begriffe zueinander war noch zu diffus. Diese Unklarheit ist allerdings nur ein Symptom und verweist auf die grundlegendere, theoretische Beziehung zwischen psychischen und sozialen Systemen. Frühere Ansätze unterschieden hier noch zwischen intrapersonaler und interpersonaler Kommunikation (vgl. Ruesch/Bateson 2012). Luhmann reservierte den Kommunikationsbegriff aber für die Operationen sozialer Systeme, also  für interpersonale Kommunikation. Somit können die Operationen psychischer Systeme nicht als Kommunikation bezeichnet werden. Um diese Kluft überbrücken zu können, entwickelte Luhmann den Begriff der Beobachtung [2]. Dieser schloss an die „Laws Of Form“ (1997) von George Spencer-Brown an. Spencer-Brown entwickelte die „Laws Of Form“ aus zwei Annahmen, die er als gegeben voraussetzt: die Idee der Bezeichnung und der Idee der Unterscheidung. Das, was Spencer-Brown als Form bezeichnet, ist die Einheit von Unterscheidung und Bezeichnung. Demnach, kann man nichts bezeichnen ohne eine Unterscheidung zu treffen. Deswegen beginnt Spencer-Brown die Entfaltung der „Laws Of Form“ mit der Anweisung: triff eine Unterscheidung! Jede Unterscheidung besteht allerdings aus zwei Seiten. Eine Bezeichnung muss sich von etwas unterscheiden. Das ist immer die andere Seite der Unterscheidung, die auch immer eine Bezeichnung ist. Operativ kann immer nur eine Seite der Unterscheidung realisiert werden. Trotzdem ist die andere Seite imaginär mit appräsentiert. Luhmann bezeichnet dann die Aktion eine Unterscheidung zu treffen, um etwas zu bezeichnen, als Beobachtungsoperation. Da man aber nicht zwei Bezeichnungen auf einmal realisieren kann, sondern nur nacheinander, ist Zeit notwendig, um die andere Seite der Unterscheidung zu bezeichnen. Unterscheidungen sind daher nichts Statisches. Sie können nur temporalisiert gedacht werden. Beobachten vollzieht sich als Oszillieren zwischen den beiden Seiten der Unterscheidung.


Wenn sowohl soziale als auch psychische Systeme beobachten, aber nur soziale Systeme kommunizieren, ist hier eine Klärung notwendig, worin sich Beobachtung und Kommunikation unterscheiden. Als Lösung wurde vorgeschlagen den Beobachtungsbegriff gegenüber dem Kommunikationsbegriff, wie Luhmann es immer so schön nannte, tiefer zu legen. D. h. der Beobachtungsbegriff wird gegenüber dem Kommunikationsbegriff stärker generalisiert, um ihm eine größere theoretische Reichweite als dem Kommunikationsbegriff zu geben. Dies gelang durch die Beschreibung der Zwei-Seiten-Form der Unterscheidung mit Hilfe des Informationsbegriffs von Gregory Bateson. Nach Bateson ist eine Informationein Unterschied, der einen Unterschied macht“ (1982, S. 123). Wenn eine Unterscheidung aus zwei Bezeichnungen besteht, dann ist eine Information eine Bezeichnung, die einen Unterschied macht. Der Unterschied in den Operationen zwischen psychischen und sozialen Systemen liegt dann darin, dass psychische Systeme bei ihrer Selbstbeobachtung nicht zwischen Mitteilung, Information und Verstehen unterscheiden müssen, sondern nur zwischen Informationen. Beobachtung als basale Selbstreferenz psychischer Systeme kann sich ohne die Unterscheidung von mitteilenden Kommunikationspartnern realisieren.  Beobachtung als basale Selbstreferenz sozialer Systeme kann sich dagegen nicht realisieren ohne eine Unterscheidung von verschiedenen Kommunikationspartnern.

Wenn es also einen Unterschied zwischen den Operationen psychischer und sozialer Systeme gibt, impliziert dies auch, dass beide Systemarten füreinander operativ unerreichbar sind. Weder können psychische Systeme in das Operieren sozialer Systeme eingreifen noch können soziale Systeme in das Operieren psychischer Systeme eingreifen. Sie können sich nur wechselseitig beobachten und irritieren. Die Tatsache operativer Geschlossenheit von Systemen schließt das Problem mit ein, dass auch psychische Systeme füreinander operativ unerreichbar sind. Psychische Systeme, mithin Menschen, sind damit wechselseitig füreinander intransparent. Sie können nicht direkt beobachten, wie der Kommunikationspartner beobachtet. Dadurch sind Menschen gezwungen sich durch Äußerungen, wie Gesten oder Sprache, ihren Kommunikationspartnern mitzuteilen. Kommunikation wird damit zur Lösung eines menschlichen Problems. Über die Operation der Beobachtung sind Menschen und soziale Systeme strukturell gekoppelt. Durch Unterscheiden, um etwas zu bezeichnen, wird psychische Aufmerksamkeit von Moment zu Moment auf etwas fokussiert. Komplexitätsreduktion als Absorption von Unsicherheit erfolgt demnach durch Aufmerksamkeitsfokussierung. Psychische Systeme kanalisieren auf diese Weise Kognition und Emotion. Soziale Systeme können zwar nicht ihre Aufmerksamkeit fokussieren. Dennoch besteht ihre Funktion darin, Angebote bereit zu stellen, worauf Menschen ihre Aufmerksamkeit wie fokussieren und lenken lassen können. Sowohl für Menschen als auch für soziale Systeme erfüllt die Beobachtungsoperation damit dieselbe Funktion, nämlich die Reduktion von Komplexität, welche aus einem Überangebot an Möglichkeiten für Aufmerksamkeitsfokussierung besteht.

In den ersten beiden Teilen wurde der Beobachtungsbegriff sachlich und sozial entfaltet. Bei der sachlichen Entfaltung wurde gezeigt, dass die Operation der Beobachtung paradox konstituiert ist. Auf diese Paradoxie der Form (vgl. Luhmann 1993) stößt man immer dann, wenn man versucht eine Unterscheidung mit sich selbst zu beobachten. Paradoxien werden damit zu nicht-eliminierbaren Identitätsproblemen (vgl. Luhmann 1987, S. 163). Bei der Selbstbeobachtung stößt man also auf spezifische Informationsprobleme, weil Paradoxien – und Tautologien als spezieller Form von Paradoxien – das Unterscheiden blockieren. Man ist entweder mit unendlich vielen Informationen oder mit gar keinen Informationen konfrontiert. In beiden Fällen ist es nicht mehr möglich seine Aufmerksamkeit auf etwas zu konzentrieren. Bei der Paradoxie der Form hat man es also mit einem erkenntnistheoretischen Problem bzw. einem Kognitionsproblem zu tun. Die Operationen sozialer Systeme bilden nur ein Beobachtungsangebot verbunden mit der Erwartung diesen Operationen zu folgen und die präsentierten Informationen nachzuvollziehen. Ob in einem Beobachtungsangebot auch Paradoxien oder Tautologien eingebaut sind, spielt für soziale Systeme keine Rolle, denn sie lenken nur die Aufmerksamkeit. Solche Paradoxien oder Tautologien stellen jedoch für psychische Systeme unter Umständen erhebliche Irritationen dar, die sich in emotionalem Stress bemerkbar machen können. Zu viele Informationen überfordern psychische Informationsverarbeitung, keine Informationen unterfordert sie. In beiden Fällen kann die Aufmerksamkeit nicht mehr fokussiert werden. 

Bei der sozialen Entfaltung des Beobachtungsbegriffs wurde gezeigt, dass das Bewusstsein über die wechselseitige Beobachtbarkeit auch spezifisch psychologische Probleme mit sich bringt. Ein soziales System konstituiert sich erst, wenn sich die Beteiligten darüber bewusst sind, dass sie sich gegenseitig beobachten. Erst unter dieser Voraussetzung entsteht ein gemeinsamer Sinnkontext in dem sich Handlungen isolieren lassen und auf Personen zugerechnet werden können. Reflexivität wird damit zwar nicht zur zwingenden Voraussetzung, um an Kommunikation teilnehmen zu können. Bei einer Kommunikationsteilnahme ohne das Bewusstsein um die eigene Beobachtbarkeit durch den Kommunikationspartner, handelt es sich dann für den Kommunikationspartner bloß um Verhalten. Ohne ein Bewusstsein um die eigene Beobachtbarkeit riskiert man daher entweder ein falsches Image oder gar kein Image in einer Situation aufzubauen (vgl. Goffman 1986, S. 13). Aufgrund der operativen Geschlossenheit und wechselseitigen Intransparenz psychischer Systeme werden Menschen mit der Unsicherheit konfrontiert, dass sie zunächst nicht wissen, wie sie vom Kommunikationspartner gesehen bzw. beobachtet werden.

Dieses Problem kann auch nur durch Kommunikation gelöst werden, indem bestimmte, situationsrelevante Informationen über sich selbst preisgegeben bzw. mitgeteilt werden. Auf diese Weise gelingt es den Kommunikationspartnern mit Hilfe von Kommunikation eine gemeinsam geteilte Welt zu konstruieren. Die Kommunikationspartner werden aufgrund der wechselseitigen Beobachtbarkeit als Personen Teil dieser gemeinsam geteilten Welt. Obwohl jeder Kommunikationspartner bestimmte Informationen über sich mitteilt, haben sie jeweils keine Kontrolle darüber, wie der Kommunikationspartner diese Informationen beobachten wird bzw. wie man in den Augen des anderen als Person erscheint. Es gibt nun zwei Möglichkeiten mit diesem Problem umzugehen. Man kann die eigene Beobachtbarkeit als Gefahr betrachten, wenn man die Befürchtung hegt, dass man in den Augen des Anderen nicht so erscheint, wie man sich gerne selbst sieht. Oder man kann die eigene Beobachtbarkeit als Risiko betrachten, wenn man in der Preisgabe persönlicher Informationen die Chance sieht so zu erscheinen, wie man sich selbst gerne sieht. Ob man eher zu der ersten oder eher zu der zweiten Einstellung neigt, hängt davon ab, über welche Kriterien man verfügt, um den Erfolg oder Misserfolg der eigenen Selbstdarstellung zu beobachten. Davon hängt weiterhin die positive oder negative emotionale Rückkopplung in Bezug auf das eigene Image ab (vgl. Goffman 1986, S. 11). Positive Selbst-Erfahrung stärkt die Fähigkeit zur Aufmerksamkeitskonzentration, Gedächtnisbildung und Sinnverarbeitung. Negative Selbst-Erfahrung beeinträchtigt dagegen die Fähigkeit zur Aufmerksamkeitskonzentration, Gedächtnisbildung und Sinnverarbeitung. Menschen werden demzufolge nach Gelegenheiten streben mit Menschen in Kontakt zu treten, von denen sie erwarten, so gesehen zu werden, wie sie sich selbst sehen. Entsprechend werden sie Gelegenheiten versuchen zu vermeiden mit Menschen in Kontakt zu treten, von denen sie erwarten, nicht so gesehen zu werden, wie sie sich selbst sehen. Die dadurch ausgelöste interpersonale Anziehung oder Abstoßung im Rahmen von sozialen Beziehungen kann entweder soziale Inklusions- oder Exklusionsprozesse anstoßen [3].

Die soziale Entfaltung des Beobachtungsbegriffs bewegte sich also auf einer sozialpsychologischen Ebene. Da sich die Beobachtung, wie man von einer anderen Person beobachtet wird, auch durch unterscheidendes Bezeichnen bzw. Aufmerksamkeitsfokussierung vollzieht, stehen die erkenntnistheoretische Ebene und die sozialpsychologische Ebene in einer unmittelbaren Beziehung zueinander. Die sachliche und soziale Entfaltung des Beobachtungsbegriffs erfolgte noch unabhängig von einer funktionalen Spezifizierung von Kommunikationsoperationen. Der eröffnete theoretische Kontext ist daher noch in der allgemeinen Theorie sozialer Systeme angesiedelt und bezieht sich daher auf alle Kommunikationsprozesse. Nun gilt es herauszuarbeiten, wie sich funktionale Differenzierung in diesen theoretischen Kontext einfügt. Dass bisher nicht auf die zeitliche Entfaltung des Beobachtungsbegriffs eingegangen wurde, hat den Grund, dass sich der Umgang mit den beschriebenen Problemen historisch und kulturell kontingent vollzogen hat. Es gab und gibt also funktional äquivalente Möglichkeiten das menschliche Problem wechselseitiger Intransparenz zu lösen. Hinzu kommt, dass Kommunikation als Lösung für die wechselseitige Intransparenz psychischer Systeme sich selbst vor neue Probleme stellt. An diesem Punkt setzt soziale Differenzierung in Form der Evolution von Kommunikation bzw. Gesellschaft ein. Geht man davon aus, dass Gesellschaft die Gesamtheit der stattfindenden Kommunikationen bezeichnet und Gesellschaft das umfassende System ist, in dessen Umwelt es kein vergleichbares System gibt, dann bedeutet Differenzierung Systembildung im System. Differenzierung bezeichnet damit die zeitliche Entfaltung der Beobachtung.


I.

Eine der Implikationen, die sich aus der operativen Geschlossenheit beobachtender Systeme ergibt, ist, dass die Systeme durch ihre Operationen keinen direkten Umweltkontakt haben. Sie operieren immer nur im eigenen Netzwerk rekursiver Unterscheidungsarrangements. Die Identität eines Sachverhalts kann daher nur durch die Relationen bestimmter Unterscheidungen zueinander bestimmt und stabil gehalten werden. Wenn Beobachten immer ein Prozess ist, dann kann ein Identitätskondensat nur durch Dynamik stabil gehalten werden. Ein Ereignis in der Umwelt eines beobachtenden Systems kann das beobachtende System außerdem nur irritieren, aber niemals von außen determinieren. Wie dieses Ereignis für das beobachtende System seinen Sinn gewinnt, hängt von den Unterscheidungen ab, mit denen das System seine Umwelt beobachtet. Auch hier gibt es funktional äquivalente Möglichkeiten mit unterschiedlichen Unterscheidungsarrangements zu ähnlichen Beobachtungsergebnissen zu kommen. Da jedoch Menschen ihre Umwelt jeweils vor dem Kontext des eigenen Selbstverständnisses beobachten, gibt es keine Möglichkeit, dass unterschiedliche menschliche Beobachter zu identischen Beobachtungsergebnissen kommen können. Die Beobachterstandpunkte der beteiligten Menschen sind nicht aufeinander reduzierbar. Ihre Verschiedenheit wird durch Kommunikation sogar noch verstärkt, präzisiert und differenziert. Die Differenzen der Sozialdimension als Differenzen im menschlichen Erleben werden zur Triebkraft für die Fortsetzung der Kommunikation. Würden die Kommunikationspartner einen Sachverhalt auf die gleiche Weise beobachten, wäre Kommunikation unnötig. Das psychische Erleben der Beteiligten muss also durch die Teilnahme an Kommunikation divergieren damit sie weitergeht.

Wenn das psychische Erleben der beteiligten Menschen divergiert, wird die Handlungskoordination mittels Kommunikation zu einem Problem. Der Fortgang der Kommunikation allein kann noch nicht als Indikator für erfolgreiche Kommunikation betrachtet werden. Die Annahme und die Ablehnung eines Kommunikationsangebots sind gleich wahrscheinlich. So löst Kommunikation zwar ein Problem in dem kurzzeitig Ordnung geschaffen wird. Diese kann aber genauso schnell wieder zerfallen, wenn sich nicht bestimmte Regelmäßigkeiten einspielen. So schafft Kommunikation als Lösung eines Problems neue Probleme, die jeweils in der Annahme oder Ablehnung eines Kommunikationsangebots liegen. Wahlweise könnte man auch vom Erfolg oder Misserfolg eines Kommunikationsangebots oder von der Lösung oder Verstärkung des jeweiligen Problems sprechen. Da die Umwelt der Gesellschaft operativ unerreichbar bleibt, wird Kommunikation auf sich selbst zurück verwiesen, was nichts anderes bedeutet als dass sich Kommunikation selbst beobachten muss. Nur über die Beobachtung der eigenen Erfolgsbedingungen sind Steigerungsleistungen möglich, die soziale Strukturen entstehen lassen, welche die Annahmewahrscheinlichkeit zugunsten bestimmter Kommunikationsangebote erhöhen. Gelingt dies, ist Kommunikation nicht mehr nur auf Anwesenheit und persönliche Bekanntschaft als Erfolgsbedingung angewiesen, wie dies noch in tribalen Stammesgesellschaften der Fall war.

Den methodischen Ausgangspunkt für die Beobachtung und Beschreibung von sozialer Ordnungsbildung bildet die soziale Matrix (vgl. Ruesch/Bateson 2012). Der Begriff soziale Matrix bezeichnet eine Konstellation in der mindestens zwei Menschen physisch anwesend sind, sich gegenseitig beobachten und sich dieser wechselseitigen Beobachtung auch bewusst sind. Er bezeichnet, mit anderen Worten, das kleinste denkbare soziale System – ein Interaktionssystem. Dass hier von der kleinsten sozialen Einheit, dem Interaktionssystem, und nicht von der größten sozialen Einheit, dem Gesellschaftssystem, ausgegangen wird, hat seinen Grund darin, dass sich das Bezugsproblem jedes sozialen Systems, nämlich die Handlungskoordination bei divergentem psychischem Erleben, am präzisesten formulieren lässt. Was bei einer Theoriebildung, die von Interaktionssystemen absieht, nur als Ordnungsproblem in den Blick kommt, transformiert sich bei der Deduktion auf die kleinste soziale Einheit zu einem Koordinationsproblem. Als methodischer Ausgangspunkt bietet die soziale Matrix mehrere Vorteile.

Als erstes wird auf diese Weise der empirische Bezug der soziologischen Systemtheorie deutlich. Soziale Systeme sind dann keine abstrakten Entitäten mehr, die keinen Bezug zur Realität haben, sondern sie sind konkrete Kommunikationsprozesse, an denen jeder Mensch durch seine Teilnahme emotional und kognitiv beteiligt ist. Über die eigene Beteiligung an Kommunikation wird die Wirklichkeit sozialer Systeme erfahrbar. Kommunikation besteht aus Angeboten seine Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Weise zu fokussieren. Spätestens wenn man ein solches Angebot angenommen hat, wird die Wirklichkeit sozialer Systeme erfahrbar, denn jedes Kommunikationsangebot ist eine Aufforderung die angebotenen Unterscheidungen nachzuvollziehen, um das zu beobachten, was der Kommunikationspartner beobachtet. Das bedeutet, dass die Wirklichkeit anderer psychischer Systeme nur mit Hilfe von Kommunikation nachvollziehbar wird. Und auch die Plausibilität des hier Dargestellten kann nur überprüft werden, wenn der Leser bereit ist, mit den vorgestellten Unterscheidungen zu beobachten und seine Aufmerksamkeit auf die vorgeschlagene Weise lenken zu lassen.

Zweitens bietet die Tatsache, dass Kommunikation immer ein selektiver Prozess ist, der sich aus einem Horizont doppelt kontingenter Handlungsmöglichkeiten der Beteiligten realisiert, den Ansatzpunkt für eine funktionale Analyse. Dabei steht der Aspekt der funktionalen Äquivalenz im Vordergrund. Für ein Problem kann es verschiedene Lösungen geben. Wenn verschiedene Mittel demselben Zweck dienen, dann besteht zwischen den Mitteln ein Verhältnis funktionaler Äquivalenz. Alle diese Mittel können dieselbe Funktion erfüllen, indem sie dasselbe Problem lösen. Dadurch wird zugleich ihre Kontingenz sichtbar. Es besteht keine Notwendigkeit für die Lösung eines Problems zwingend ein bestimmtes Mittel zu wählen. Es ist auch möglich ein anderes Mittel zur Lösung desselben Problems zu wählen. Den Erkenntnisgewinn zieht eine funktionale Analyse aus dem Vergleich der verschiedenen Lösungen unter dem Gesichtspunkt funktionaler Äquivalenz.

Ein dritter Vorteil von der sozialen Matrix auszugehen, besteht darin, dass man sukzessiv zu immer größeren sozialen Systemen voranschreiten kann, an denen immer mehr Menschen beteiligt sind. Endpunkt ist die Weltgesellschaft als weltumspannendes Kommunikationssystem. Dass die Verallgemeinerung bis zur Weltgesellschaft gerechtfertigt ist, lässt sich auch unter einem funktionalen Gesichtspunkt verständlich machen. Schließlich ist jeder Mensch von dem Problem der operativen Geschlossenheit seines psychischen und organischen Systems betroffen und muss sich deswegen anderen Menschen durch Äußerungen mitteilen. Der Weg von Interaktionssystemen über Organisationssystemen zum umfassenden System der Gesellschaft ermöglicht ein induktives Vorgehen, das vor allem bei der Untersuchung von Prozessen der symbolischen Generalisierung von Sinngehalten relevant wird. Auf diesem Weg wird auch deutlich, dass Anwesenheit keine Bedingung für die Reproduktion sozialer Systeme ist. Spätestens seit dem Buchdruck ist auch eine Kommunikation unter Abwesenden möglich. Das Kriterium der Anwesenheit dient daher nur dazu das Problem zu präzisieren, für das Kommunikation die Lösung ist. Mit dem Internet haben sich die Möglichkeiten zur Kommunikation unter Abwesenden massiv vervielfältigt. Doch gerade mit der Kommunikation unter Abwesenden haben sich Folgeprobleme ergeben, mit denen man bei der Kommunikation unter Anwesenden nicht konfrontiert wird [4]. Wenn es gelingt Prozesse symbolischer Generalisierung bis hin zur Gesellschaftsebene nachzuzeichnen, lässt sich anschließend deduktiv untersuchen, was bestimmte Semantiken als Ergebnisse symbolischer Generalisierung in konkreten Situationen leisten.

Vor dem Hintergrund der hier mehrmals geäußerten Kritik der Menschenvergessenheit aktueller soziologischer Theorien wird ein vierter Vorteil dieser Vorgehensweise erkennbar. Die Fokussierung auf die soziale Matrix als kleinste soziale Einheit ermöglicht es die strukturelle Kopplung zwischen sozialen und psychischen Systemen stärker in den Blick zu nehmen. Strukturelle Kopplung bezeichnet ein Verhältnis wechselseitiger Irritation und Interpenetration. Was hier unter einem Irritationsereignis verstanden wird, wurde bereits weiter oben erläutert. Ob und wie ein System durch ein externes Ereignis irritiert wird, hängt von der Systemstruktur bzw. dem Unterscheidungsnetzwerk ab, mit dem beobachtet wird. Daran schließt sich die Frage an, wie es dem System gelingt durch das eigene Operieren Komplexität so zu reduzieren, dass zugleich systemeigene Komplexität zur Konstruktion der relevanten Umwelt aufgebaut wird. Da die Operationen beider Systemtypen Beobachtungen sind und die Systeme sich wechselseitig beobachten, wird der Prozess der wechselseitigen Konstruktion der relevanten Systeme in der Umwelt als Interpenetration bezeichnet. Für die Untersuchung dieser Prozesse wird man allerdings auf die Beobachtung sozialer Systeme verwiesen, da die Intransparenz psychischer Systeme keine direkte Beobachtung erlaubt. Somit geht es darum zu untersuchen, wie Kommunikation durch die Organisation ihrer Operationen die Differenz von System und Umwelt handhabt und wie sich umgekehrt die psychische Organisation der Differenz von System und Umwelt in der Kommunikation ausdrückt. Das Ziel ist es zu untersuchen, wie soziale und psychische Systeme trotz ihrer operativen Geschlossenheit ihre informationelle Offenheit wechselseitig füreinander durch die Formen der verwendeten Aufmerksamkeitsfokussierung erhöhen oder verringern. 

Im Rahmen der Theorie beobachtender Systeme werden auch Menschen als Beobachter begriffen. Menschen sind aber im Gegensatz zu sozialen Systemen in der Lage sowohl über die Wahrnehmung als auch über das bewusste Unterscheiden und Bezeichnen Informationen über ihre Umwelt zu gewinnen. Begreift man Beobachten als Aufmerksamkeitsfokussierung, dann kann man auch die menschliche Wahrnehmung als eine Form von Beobachtung betrachten. Wahrnehmung reduziert die Komplexität der eingehenden Sinneseindrücke. Die Leistung der Wahrnehmung besteht deswegen vorwiegend im Unterdrücken von Irritationen [5]. Wahrnehmung kann nicht als passives Erleiden von Sinneseindrücken verstanden werden, sondern als aktiver Prozess der Fokussierung der Aufmerksamkeit. Will man den Prozess der Kommunikation untersuchen, gilt es deshalb zu beachten, dass die beteiligten Menschen immer beides sind Beobachter und Beobachteter, die ihr jeweiliges Erleben und Handeln auf ein gemeinsames Zentrum der Aufmerksamkeit ausrichten. Das gemeinsame Zentrum der Aufmerksamkeit kann im Grunde alles sein, was die Beteiligung von mindestens zwei Menschen erfordert. Das zwischen den Anwesenden sich entwickelnde Wechselspiel der Handlungsbeiträge in Bezug auf dieses gemeinsame Zentrum bildet den kontinuierlichen Fluss dieses sozialen Systems. Analytisch fungieren die Bezeichnungen „Erleben“ und „Handeln“ als Formen der Zuschreibung, die sich entweder auf psychische Systeme (Erleben) oder auf soziale Systeme (Handeln) beziehen (vgl. Luhmann 2005, S. 82). Das Erleben – wahlweise wird im Folgenden auch von Erfahrung gesprochen – eines Menschen kann allerdings nur über sein Verhalten erschlossen werden. Verhalten bezeichnet sowohl die bewusst ausgeführten Handlungen als auch die unwillkürliche Mimik und Gestik der Kommunikationspartner, also die Gesamtheit des beobachtbaren Informationsflusses. Die eigene Mimik und Gestik ist zwar für den Handelnden nicht beobachtbar, dafür aber vom erlebenden Kommunikationspartner. Auch die auf diese Weise gewonnen Informationen können das kommende Handeln des noch erlebenden Kommunikationspartners beeinflussen. Doch im Bewusstsein Teil einer gemeinsam geteilten Welt zu sein, werden beide Kommunikationspartner früher oder später auch darum bemüht sein ihre Körpersprache zu kontrollieren, um keine nachteiligen Informationen über sich preiszugeben.

Wenn die soziale Konstruktion einer gemeinsamen Welt, die den Fokus des gemeinsamen Erlebens und Handelns bildet, nur aus dem Verhaltensstrom verstehbar wird, der zwischen den Menschen abläuft, dann kann das Grundelement soziologischer Aufmerksamkeit nicht die Handlung eines einzelnen Menschen sein. Vielmehr gilt es das, was die Beteiligten aus dem Verhaltensstrom als Handlungen isolieren und für den weiteren Fortgang der Kommunikation als relevant markieren, unter einem gemeinsamen Sinnkontext zu analysieren. Die kleinstmögliche Handlungssequenz besteht daher aus mindestens zwei Handlungen von zwei unterschiedlichen Personen. Da die Lösung des sozialen Problems die Beteiligung von mindestens zwei Personen erfordert, müssen die Handlungen der beteiligten Personen sinnhaft aufeinander bezogen sein. Da diese Handlungen nur nacheinander erfolgen können, werden unter dem Kontext eines einheitlichen sozialen Sinnzusammenhangs die Unterschiede in der Sach-, Sozial- und Zeitdimension auskatalysiert. Jede Handlungssequenz, egal ob sie sich nur aus zwei oder mehreren Handlungen zusammensetzte, kann nun daraufhin analysiert werden, welche Unterschiede im Erleben des gemeinsamen Fokus der Aufmerksamkeit zwischen den Beteiligten bestehen und wie sich diese Unterschiede im Verlauf der Kommunikation vergrößern oder verkleinern.

Wenn Kommunikation immer der operative Vollzug der Organisation der Unterscheidung von System und Umwelt ist und soziale und psychische Systeme wechselseitig für einander die relevanten Umwelten bilden, dann müssen die jeweiligen System-Umwelt-Unterscheidungen ineinander verschränkt werden. Als Soziologe beobachtet man deswegen anhand des beobachtbaren Verhaltensstroms den operativen Vollzug der Unterscheidung Kommunikation/Bewusstsein und deren Differenzierung auf beiden Seiten der Unterscheidung. Bei dem dann zu beobachtenden Prozess handelt es sich um Interpenetration. Laing/Phillipson/Lee bezeichnen diesen Prozess auch als Spirale reziproker Perspektiven (vgl. 1976, S. 37ff.) [6]. Wählt man die soziale Matrix als Ausgangspunkt und berücksichtigt die oben beschrieben erkenntnistheoretischen und psychologischen Probleme, dann lassen sich für eine soziologische Analyse von Kommunikationsprozessen folgende Axiome aufstellen: 

1. Jede Bezeichnung ist die Funktion einer Unterscheidung.
2. Eine Unterscheidung und ihre Bezeichnungen beziehen sich immer auf etwas anderes als sich selbst.
3. Bezieht sich eine Unterscheidung auf sich selbst, so muss dasselbe anders bezeichnet werden. Die Beziehung zur ersten Unterscheidung bleibt imaginär erhalten.
4. Jede Handlung ist die Funktion von Erleben.
5. Erleben und Handeln beziehen sich immer auf etwas anderes oder jemand anderes als sich selbst.
6. Bezieht sich das Erleben oder das Handeln auf sich selbst, handelt es sich um einen Fall von Selbstbeobachtung und es gilt Punkt 3. 

Mit diesen sechs Axiomen [7] wird dem Reproduktionsprinzip sozialer Systeme Rechnung getragen und beschreibt wie sie sich organisieren, um die eigene Identität über die Zeit durch das fortlaufende Unterscheiden zwischen System und Umwelt aufrecht zu erhalten. Dieses Organisationsprinzip wurde zuerst von Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela im Hinblick auf biologische Systeme formuliert und als Autopoiese bezeichnet (vgl. 2012, S. 50f.). Niklas Luhmann nahm an, dass sich auch die Selbstorganisation sozialer Systeme als Autopoiesis beschreiben lässt. Deswegen bezeichnete er soziale und psychische Systeme auch als autopoietische Systeme. Menschen sind für das Überleben von sozialen Systemen unverzichtbar. Sie sind die relevante Umwelt. Das gilt auch umgekehrt. Ohne soziale Systeme bzw. Kommunikation sind Menschen nur sehr bedingt überlebensfähig. Beide sind also auf die wechselseitige Beobachtung angewiesen, also dem Oszillieren zwischen System und Umwelt. Menschen sind jedoch nicht über den Körper sondern über die Psyche mit sozialen Systemen strukturell gekoppelt. Als beobachtende Systeme nehmen beide Zuschreibungen durch unterscheidendes Bezeichnen vor und konstruieren auf diese Weise ihre relevante Umwelt. In Kommunikationsprozessen drückt sich daher nicht nur aus, wie soziale Systeme das Verhältnis zur ihrer Umwelt organisieren, sondern auch wie psychische Systeme ihr Verhältnis zur Umwelt organisieren.

Desweiteren wurden die Axiome nur bis zum Fall der Selbstbeobachtung formuliert. Wenn es zur Selbstbeobachtung kommt – sei es sozial, sei es psychisch – kann es entweder zu einem re-entry (vgl. Spencer-Brown 1992, S.60ff.) kommen oder zu einem double bind (vgl. Bateson 1985, S. 276ff.). Der re-entry bezeichnet den Fall, wenn das System bei der Selbstbeobachtung die Organisation der eigenen Operationen blockiert und zur Lösung dieses Problems die System-Umwelt-Differenz auf der Systemseite platziert [8]. Der double bind bezeichnet dagegen den Fall, wenn das System für die Fortsetzung seiner Autopoiesis die System-Umwelt-Differenz auf der Umweltseite platziert. Während es im ersten Fall zum Lernen, zur Differenzierung, zum Aufbau eines Gedächtnisses und zur Sozio- bzw. Psychogenese kommt, kommt es im zweiten Fall zu einer Regression, zum Gedächtnisverlust, zur Identitätskrise und schließlich zum Zerfall der Selbstorganisation. Ob es aber zu einem re-entry oder zu einem double bind gekommen ist, ist eine empirische Frage, die sich nur anhand der Analyse der Selbstorganisation sozialer Systeme klären lässt. Wie bereits erwähnt, kann auf die psychische Autopoiesis nur anhand der Form ihrer Kommunikationsteilnahme zurückgeschlossen werden. Möglich ist dies, weil mit der Annahme, dass keine Bezeichnung ohne eine Unterscheidung getroffen werden kann, ein so allgemeines Prinzip formuliert wurde, dass es auf biologische, soziale und psychische Systeme angewendet werden kann. Nichts desto trotz muss dieses Prinzip für jede Systemart spezifiziert werden, um beschreiben zu können, wie die verschiedenen Systeme die Unterscheidung von System und Umwelt organisieren. Hier wird sich auf die Spezifizierung für soziale Systeme konzentriert. Diese lässt dann auch Rückschlüsse auf die Selbstorganisation der beteiligten psychischen Systeme zu. So kommt, wenn man seine Aufmerksamkeit auf den Verhaltensstrom zwischen Menschen richtet, die Organisation der Differenz soziales System/psychische Systeme in den Blick und damit auch die Komplexität des relevanten psychischen Erlebens der beteiligten Menschen.


II.

Für den weiteren Fortgang der Darstellung ist die Annahme entscheidend, dass jede Beobachtung die Aufmerksamkeit auf etwas konzentriert und damit eine Unterscheidung getroffen wurde. Geht es um die Klärung, was funktionale Differenzierung bedeutet, kann das nur heißen zu klären, wie mit einem funktional spezifizierten Code beobachtet wird. Bei einem Code handelt es sich nicht um irgendeine Unterscheidung, sondern um den unhintergehbaren Letzthorizont der Informationsgewinnung – die zugrundeliegende System-Umwelt-Differenz. Um einem Ereignis einen Sinn zu geben, muss es auf diesen Letzthorizont zurückgerechnet werden. Spencer-Brown bezeichnet diesen Letzthorizont als den tiefsten Raum (vgl. 1997, S. 6). Erving Goffman hat mit der Rahmen-Analyse versucht, solche die Erfahrung organisierenden Letzthorizonte zu identifizieren (vgl. 1980, S. 20ff.). Eine weitere Bezeichnung für diesen Letzthorizont ist der Begriff Kontext. Es geht im Folgenden darum, zu identifizieren, was der Inhalt des wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen, wissenschaftlichen, intimen oder künstlerischen Codes ist.

Dies gelingt im Rahmen der systemtheoretischen Theorieanlage über die Beschreibung der jeweiligen Problemkonstellationen, die als Katalysatoren fungieren, um die Differenzierung des Gesellschaftssystems voranzutreiben. Eine Klärung dieses theorieinternen Zusammenhangs erscheint schon deswegen notwendig, weil man in den neueren Systemtheorien nach Luhmann sich bereits von der systemtheoretischen Differenzierungstheorie, speziell das Theorem der funktionalen Differenzierung, zu verabschieden beginnt (vgl. Karafillidis 2010; Baecker 2013). Der Grund dafür liegt in einer zu starken Fixierung auf die methodische Anwendung von Spencer-Browns Formenkalkül. Diese Versuche verkennen jedoch die interaktionistisch, phänomenologische Fundierung der Luhmannschen Systemtheorie in der sozialen Matrix. Ohne diesen Rückbezug auf konkrete menschliche Begegnungen geht auch verloren, welche Bedeutung funktionale Differenzierung in der Luhmannschen Systemtheorie hat. Das Resultat sind zu hoch generalisierte Konzepte, die bei der empirischen Anwendung einige notwendige Zwischenschritte auslassen. Funktionale Differenzierung scheint aus der Perspektive dieser Ansätze dann überflüssig zu sein [9]. In der Folge kommt es zu voreiligen Kurzschlüssen bei der Respezifizierung der systemtheoretischen Gesellschaftstheorie, die sich zu sehr im Klein-Klein der Unterscheidungspraxis verlieren.

Für die Beschreibung des Inhalts der funktional spezifizierten Codes wird der Weg der funktionalen Analyse genommen. Das bedeutet zu analysieren für welches Problem eine bestimmte Handlungsweise als Lösung verstanden werden kann. Das soziale Grundproblem, das mit jedem Kommunikationsereignis gelöst wird, ist die Handlungskoordination unter der Bedingung divergierenden psychischen Erlebens. Dieses Problem ist historisch invariabel und wird niemals endgültig gelöst werden, solange es Menschen gibt. Historisch und kulturell variabel sind dagegen die möglichen Lösungen dieses Problems. Sozio-kulturelle Evolution bzw. soziale Differenzierung bezeichnet den Prozesse der Systembildung in Systemen. D. h. die System-Umwelt-Differenz wird systemintern wiederholt und es bildet sich ein Subsystem, das in Abhängigkeit vom Ursprungskontext die Reproduktion seiner eigenen System-Umwelt-Differenz organisiert. Dies gelingt nur, sofern es zu einem re-entry bei der Reflexion des Systems kam. Ein System kann sich nur intern differenzieren, wenn die System-Umwelt-Differenz auf der Systemseite wieder eingeführt wurde. Der Katalysator für die Emergenz eines weiteren sozialen Systems in einem sozialen System sind Probleme, die die weitere Autopoiesis des umfassenderen Systems blockieren, sodass aus der Systemperspektive nur durch die Bildung eines Subsystems die weitere Autopoiesis des Gesamtsystems fortgesetzt werden kann. Es gibt jedoch keine idealen Lösungen. Jede Lösung bringt neue Probleme mit sich. Daraus ergibt sich in der soziokulturellen Evolution des Gesellschaftssystems eine Tendenz – aber keine Notwendigkeit! - zu immer höherer Komplexität und mitunter sogar einen Wechsel der Differenzierungsform, denn der Vorgang der Systembildung in einem System kann sich in dem gebildeten Subsystem wiederholen.  Mithin ist die Lösung von Folgeproblemen abhängig von den vorangegangenen Lösungen. Zum Wechsel der Differenzierungsform der Gesamtgesellschaft kommt es erst, wenn es dem System nicht mehr gelingt sich zu restabilisieren. Das bedeutet, dem System gelingt es nicht mehr sein Verhältnis zwischen Systemereignissen und Systemstrukturen so zu integrieren, dass die Autopoiesis weiter gehen kann. 

Der Zweck funktionaler Differenzierung besteht darin dysfunktional gewordene Multifunktionalitäten zu trennen und die Probleme, die vormals zusammen bearbeitet wurden, nun separat zu bearbeiten. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass in früheren Differenzierungsformen durch ein Kommunikationsereignis gleich mehrere Probleme auf einmal löst wurden. Dies ist am deutlichsten bei der frühesten Differenzierungsform, der segmentären Differenzierung, zu beobachten. Die Segmente der Gesellschaft waren tribale Stämme, die intern mehr oder weniger dieselbe formale Struktur aufwiesen. Jedes Kommunikationsereignis wurde im Rahmen des jeweiligen Mythos eines Stammes interpretiert. Egal ob die Kommunikation auf Macht, Wahrheit, Knappheit, Intimität, Schönheit, Erziehung oder Transzendenz rekurrierte, der Letzthorizont für die Zuschreibung von sozialem Sinn war der Gründungsmythos des Stammes. Jedes Kommunikationsereignis war deswegen symbolisch hoch verdichtet und konnte auf die kognitive und emotionale Autorität aller dieser Referenzen bauen. Zugleich wurde mit dem Mythos als Letzthorizont eine Reflektionssperre installiert, die Kontingenz wirksam ausschaltete. Das Andere, die Anti-Struktur konnte nur im Rahmen von Übergangsritualen während der liminalen Phase aufscheinen (vgl. Turner 2005). Aber auch dies geschah noch im Rahmen des Mythos. Die Außenseite des Systems wurde innerhalb des Systems während der liminalen Phase eines Übergangsrituals erfahrbar gemacht. Die Reproduktionsbedingungen solche sozialen Systeme waren die ausschließlich mündliche Überlieferung des Mythos und die tägliche Begegnung der Stammesangehörigen. Nur durch eine sehr enge wechselseitige Beobachtung durch Anwesenheit konnte die Autorität des Mythos gewahrt bleiben.

Dies wurde jedoch mit der Erfindung der Schrift und der Notwendigkeit soziale Strukturen auch ohne die gleichzeitige Anwesenheit aller Stammesmitglieder aufrecht zu erhalten immer schwieriger. Dies gelang mit dem Wechsel der Differenzierung von segmentär zu stratifikatorisch. An die Stelle des Nebeneinanders von formal gleichen Stämmen trat eine Sozialstruktur, die sich durch Über-/Unterordnungsverhältnisse zwischen Personen reproduzierte und von der Spitze her gelenkt wurde. Zunächst noch durch Religion später durch Politik wurde die Aufrechterhaltung solcher Sozialstrukturen mit Hilfe einer holistischen Ideologie durchgesetzt – im Konfliktfalle auch mit Gewalt. Legitimiert wurde die Gewaltanwendung durch die Hypostasierung eines Funktionsprinzips, wahlweise Transzendenz oder Macht - häufig auch in Kooperation, also noch multifunktional. Bei der stratifikatorischen Differenzierung kam es aber langsam zu einer Trennung alter Multifuktionalitäten. Weiter gesteigert wird die Entwicklung mit dem Übergang zu funktionaler Differenzierung. Auf der Ebene des Gesellschaftssystems kann die Autopoiesis nicht mehr durch ein Funktionsprimat an der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie organisiert werden. Schritt für Schritt wird die hierarchische Organisation durch eine heterarchische Selbstorganisation der Gesellschaft ersetzt. Es kommt zu einer operativen Schließung aller bisher ausdifferenzierten sozialen Funktionen zu Subsystemen der Gesellschaft. Sie operieren nun gleichberechtigt nebeneinander.

Jedes Funktionssystem hat sich auf die Lösung eines bestimmten gesellschaftsweit anfallenden Problems spezialisiert, von dem jeder Mensch potentiell betroffen sein könnte, und operiert nur nach der Maßgabe, ihre spezifischen Leistungen zur Lösung eines bestimmten sozialen Problems auch in Zukunft erbringen zu können. Funktionssysteme können nun nicht mehr durch einander ersetzt werden, weil jedes Funktionssystem sich auf die Lösung eines anderen Problems spezialisiert hat. Zugleich trägt jedes Funktionssystem durch die Konzentration auf die Erbringung seiner Leistungen für die Umwelt dazu bei, dass alle anderen Funktionssysteme sich auf die Erfüllung ihrer Funktion konzentrieren können. Indem sich jedes Funktionssystem auf die eigene Autopoiesis konzentriert, trägt es zugleich also dazu bei, dass auch jedes andere Funktionssystem sich auf die eigene Autopoiesis konzentrieren kann. Damit sind alle Funktionssysteme der Gesellschaft strukturell miteinander gekoppelt. Mit funktionaler Differenzierung hat sich die Gesellschaft zu einem hoch interdependenten Sozialsystem entwickelt, dass seine Autopoiesis nur fortsetzen kann, wenn diese wechselseitige Abhängigkeit der Subsysteme bestehen bleibt. Diese Interdependenz der einzelnen sozialen Funktionen macht sich erst auf der Ebene der Organisationssysteme bemerkbar, denn Organisationen müssen alle funktional spezifizierten Lösungen so organisieren, dass die eigene Autopoiesis fortgesetzt werden kann. Entscheidend ist dabei, durch was sich die jeweilige Organisation von der Umwelt unterscheidet und die eigene Identität stabil hält. Hier ist dann durchaus eine gewisse hierarchische Organisationsstruktur erwartbar, an deren Spitze auch eine bestimmte soziale Funktion steht. Durch diese Funktion kann jedes Organisationssystem einem gesellschaftlichen Funktionssystem zugeordnet werden. Jede Rückkehr zu einer früheren Differenzierungsform, z. B. durch die erneute Installierung des Primats einer Funktion auf der Ebene der Gesamtgesellschaft, würde zum Zusammenbruch der Autopoiesis der modernen Gesellschaft führen. Wechselseitige Abhängigkeit würde wieder auf einseitige Abhängigkeit reduziert werden. Faschismus, Kommunismus, Sozialismus und auch die gegenwärtig in Rußland praktizierte autoritäre Ökonomie können als Beispiele für solche Versuche betrachtet werden, heterarchische Selbstorganisation durch hierarchische Gesellschaftsorganisation zu ersetzen. Soweit ein kurzer Abriss der bekannten Teile der Luhmannschen Differenzierungstheorie.


III.

Im Folgenden wird nun die interaktionstheoretische Fundierung der Luhmannschen Theorieanlage rekonstruiert. Ohne eine empirische Anbindung der systemtheoretischen Gesellschaftstheorie an die für Jeden beobachtbaren, sozialen Phänomene bleiben die systemtheoretischen Beobachtungsergebnisse leer. Interpenetrationsprozesse kommen nicht in den Blick. Die für Kommunikation zwingend notwendigen Menschen werden bei der Beobachtung nicht beachtet. Auf der Abstraktionsebene der Gesellschaftstheorie können sie dann nur noch als Marionetten gedacht werden, die von anonymen Systemen gesteuert werden und gleichsam blind für eine gemeinsam geteilte Welt durch ihr Leben driften. Begreift man Menschen dagegen als zur Selbstreflektion fähige Wesen – und das implizierte der Kommunikationsbegriff bereits bei Ruesch/Bateson –, ist eine derartige methodische Vorgehensweise unzureichend.

Kommunikation beginnt sobald sich mindestens zwei Menschen wechselseitig beobachten. Sie sind Beobachter als auch Beobachteter zugleich und sie beobachten sich gegenseitig als erlebend und handelnd. Sie treten in eine gemeinsam geteilte Welt ein, von der sie selbst ein Bestandteil sind. Es öffnet sich die Unendlichkeit doppelt kontingenter Handlungsmöglichkeiten. Die dadurch erzeugte Unsicherheit kann nur durch die Wahl einer Handlung – wie spontan oder willkürlich auch immer – absorbiert werden. Das nun angestoßene Geschehen läuft selektiv ab und die Freiheitsgrade werden sukzessiv eingeschränkt. Die Selektivität ist allen Teilnehmern wechselseitig zu unterstellen. Es gibt damit keine zwangsläufig oder deterministisch ablaufenden Prozesse. Die Freiheitsgrade werden niemals auf Null reduziert. Die Beteiligung von mindesten zwei Menschen macht es unmöglich, dass einer der Kommunikationspartner die Situation vollständig kontrollieren kann. Eine Restunsicherheit für unvorhergesehene Ereignisse bleibt immer bestehen. Durch die fehlende Kontrolle ist es daher relativ gleich wahrscheinlich, dass ein Kommunikationsangebot angenommen oder abgelehnt wird. Ablehnung bedeutet zugleich Konflikt. Es entstehen also neue Probleme, die im Extremfall zum Abbruch der Kommunikation führen. Die Lösung besteht darin, durch die Form des Kommunikationsangebots die Annahmewahrscheinlichkeit zu erhöhen.

Ausgehend von der dyadischen Konstellation der sozialen Matrix, unterschied Luhmann vier Konstellationen bei denen sich das Problem einer hohen Ablehnungs- und Konfliktwahrscheinlichkeit stellt (vgl. Luhmann 1997, S. 335ff.). Dabei spielt die Zurechnung der Problemursache durch die Beteiligten eine wichtige Rolle. Entweder wird diese der Umwelt, also dem Erleben des Kommunikationspartners zugerechnet oder dem sozialen System (Handeln). Da beide Kommunikationspartner Beobachter und Beobachteter zugleich sind, ist eine Asymmetrisierung notwendig. Die Kommunikation läuft immer vom Beobachteten zum Beobachter. Es kommt darauf an wie eine Mitteilung von der beobachteten Person vom Adressaten beobachtet wird. Wie die Mitteilung vom Adressaten verstanden wurde, darauf lässt sich nur anhand der Anschlusshandlung zurückschließen [10]. Hier zeigt sich noch einmal, wieso der Kommunikationsbegriff immer notwendig zwei Handlungen, von denen die Letztere sich auf die Vorangegangene bezieht, einschließen muss. Der Beobachter wird im Folgenden auch als Ego, der Beobachtete als Alter bezeichnet. Von der Kausalitätszurechnung und der Asymmetrisierung ist abhängig, wie die Konditionierungen gesetzt werden, um die Annahme bzw. Selektion eines bestimmten Kommunikationsangebots zu motivieren. Folgende Problemkonstellationen hat Luhmann unterschieden: 



Alter handelt - Ego handelt 

Eine bestimmte Handlung des Mitteilenden (Alter) soll den Adressaten (Ego) zu einer bestimmten Handlung motivieren. Dies wird üblicherweise zum Problem, wenn der Mitteilende möchte, dass der Adressat eine bestimmte Handlung ausführt und dieser sich weigert diese Handlung auszuführen. Auf dieses Problem haben sich das politische System und das Rechtssystem spezialisiert. In der modernen Gesellschaft, mit einer moralischen Betonung der individuellen Handlungsfreiheit, kann es aber nicht mehr darum gehen, dass jemand gegen seinen Willen eine bestimmte Handlung ausführt. In einer Gesellschaft, die der Einzigartigkeit der persönlichen Lebensgestaltung freien Raum geben möchte, kann der kleinste gemeinsame Nenner nur darin gefunden werden, welche Mittel für die Erreichung des eigenen Glücks [11] ausgeschlossen sind. Sollen Entscheidungen kollektiv bindend sein, müssen sie von mehr oder weniger allen Mitgliedern dieses Kollektivs akzeptiert werden. Politische und rechtliche Entscheidungen können daher nur den kleinsten gemeinsamen Nenner betreffen, der sich allenfalls noch negativ, aber nicht mehr positiv bestimmen lässt. Somit geht es nicht darum, dass die Politik oder das Recht jemanden dazu motivieren etwas gegen seinen Willen zu tun, sondern darum etwas gegen seinen Willen zu unterlassen. D. h. Politik und Recht können sich nur auf die zu unterlassenden Handlungen konzentrieren. Diese zu unterlassenden Handlungen bestehen in der Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung der eigenen Interessen. In der Konsequenz liegt die primäre Aufgabe von Politik und Recht in der Unterdrückung von Gewaltanwendung – gegebenenfalls auch mit Gewalt. Symbolische Generalisierungen, welche die Annahme einer politischen oder rechtlichen Kommunikation motivieren sollen, können deswegen nur noch dahingehend konditioniert werden, bestimmte Handlungen zu unterlassen. Dafür sind Staat und Recht legitimiert.

Aufgrund dieses repressiven Charakters politischer und rechtlicher Kommunikation kann weder der Politik noch dem Recht eine gesellschaftsgestaltende Funktion zugemutet werden. Man kann nicht dadurch gestalten, dass man jemanden dazu motiviert, etwas zu unterlassen. Beide Systeme würden früher oder später überfordert werden, wenn man ihnen eine gestaltende Funktion zumutet und erwartet, dass sie nicht nur etwas unterdrücken, sondern auch etwas ermöglichen sollen. Um etwas zu ermöglichen, sind negative Sanktionen ungeeignet und lassen, falls sie trotzdem dazu eingesetzt werden müssen, zumeist nur die Machtlosigkeit des vermeintlichen Machthabers offenbar werden. Daher müssen positive Sanktionen, also Belohnungen, in Aussicht gestellt werden, damit die Machtlosigkeit unbemerkt bleibt. Üblicherweise bestehen diese positiven Sanktionen aus monetären Anreizen, die jedoch Begehrlichkeiten nach immer höheren Anreizen wecken und zwangsläufig irgendwann enttäuscht werden müssen. Politik kann mit Geld nicht gestalten, sondern kauft sich trotz noch so guter Absichten dadurch nur Gefolgschaft. Das geht allerdings immer auf Kosten von irgendjemand anderes, dessen Gefolgschaft man dadurch höchst wahrscheinlich verliert. Die Gefolgschaft aller Staatsbürger zu kaufen ist unbezahlbar. Mit Geld zu regieren, bedeutet daher zwangsläufig die Umverteilung von Gefolgschaft und es ist nur eine Frage der Zeit bis das Geld nicht mehr reicht, um alle Begehrlichkeiten zu befriedigen. Dieses Problem muss bei der politischen und rechtlichen Selbstbeobachtung berücksichtigt werden, ansonsten kommt es zu einem Rückfall in vormoderne Kommunikationsformen durch die Hypostasierung eines Funktionsprinzips. Die Folge wären wieder einseitige Abhängigkeitsverhältnisse. 


Alter handelt - Ego erlebt 

Eine bestimmte Handlung des Mitteilenden (Alter) soll den Adressaten (Ego) zu einem bestimmten Erleben motivieren. Dies wird in der Regel dann zum Problem, wenn Ego lediglich zuschauen soll, dass Alter handelt. Für Ego sind keine Partizipationsmöglichkeiten vorgesehen. Er verbleibt in einer passiven Zuschauerrolle. Auf dieses Problem hat sich die Wirtschaft spezialisiert. Wenn jeder nach seinen Vorstellungen glücklich werden darf, bedarf es dazu die Freiheit individuell bindende Entscheidungen zu treffen. Diese Entscheidungen beziehen sich auf die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und betrifft sowohl die Entscheidung darüber, wofür man Geld ausgibt, also auch die, wofür man bezahlt wird. Alter kann alle seine Bedürfnisse nach seinen Wünschen befriedigen. Ego muss dabei zuschauen und hat keine Möglichkeit der Intervention. Diese Passivität kann Ego nur akzeptieren, wenn er weiß, dass ihm genau dieselben Freiheiten wie Alter zustehen und Alter umgekehrt genauso zuschauen muss, wenn Ego seine Bedürfnisse nach seinen Vorstellungen befriedigt, egal ob Alter das gefällt oder nicht [12].

Aus der Konstellation „Alter handelt und Ego erlebt“ ergibt sich noch ein weiteres Problem. Damit Ego in der Lage ist auf dieselbe oder ähnliche Art zu handeln wie Alter, muss er zunächst beobachten wie Alter handelt. In einer groben Annährung könnte man zunächst sagen, dass es um Nachahmung geht. Das wäre aber eine zu allgemeine Bestimmung, denn es soll nicht einfach eine formal und inhaltlich bestimmte Handlung von Ego wiederholt werden. Dies wäre relativ einfach, solange sie als erfolgreich beobachtet wird. Zu einem unwahrscheinlichen Angebot wird eine Handlung, wenn es nur darum geht, bestimmte formale Merkmale von Alters Handeln zu übernehmen und die inhaltliche Bestimmung selbst vorzunehmen. Es geht hier also bereits um eine spezifische Abstraktionsleistung, die sich nur auf die Form, aber nicht auf den Inhalt, bezieht. Zu einer Sonderleistung, die einer Konditionierung bedarf, wird eine solche Kommunikation, wenn es um das Kriterium Schönheit geht. Schönheit liegt in der modernen Gesellschaft bekanntermaßen im Auge des Betrachters. Woraus sich eine relativ hohe Ablehnungswahrscheinlichkeit für Kunstwerke als Kommunikationsangebote ergibt. Um diese Ablehnungswahrscheinlichkeit zu überwinden, sind daher bestimmte ästhetische Kriterien notwendig, damit sich Kunst als solche erkennen kann – sowohl bei Kunstschaffenden als auch beim Publikum. Gerade bei der Kunst kann die Selbstbeobachtung nur über die Gestaltungsmethoden laufen, da diese inhaltlich nicht festgelegt sind und alles zum Thema machen können. Wobei sich bestimmte Themen trotzdem besser eignen als andere. Der aktuelle Trend einfach das Gegenteil von dem zu machen, was man bisher für Kunst gehalten hat, ist allerdings noch kein ästhetisches Prinzip. Vermutlich entspringt dieser Trend – üblicherweise mit der Vorsilbe Post- versehen – purer Einfallslosigkeit oder der Unkenntnis der Kunstgeschichte. Im Laufe der Zeit sind gewisse Rezeptionsgewohnheiten entstanden, die man gerade nicht dadurch bedient, dass man einfach verkehrte Welt spielt. Damit stößt man die Beobachter nur vor den Kopf und senkt damit die Annahmewahrscheinlichkeit. Außerdem verwischt man dadurch den Unterschied zwischen dem Kunstsystem und seiner Umwelt, denn die aktuellen Gestaltungsprinzipien nicht zu kennen, bedeutet die aktuellen Grenzen der Kunst nicht zu kennen. Entsprechend übersteigert sind dann auch die Gestaltungsformen, mit denen aus lauter Verzweiflung versucht wird die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. 


Alter erlebt - Ego erlebt 

Ein bestimmtes Erleben des Mitteilenden (Alter) soll den Adressaten (Ego) zu einem bestimmten Erleben motivieren. Damit Ego zum selben oder ähnlichen Erleben motiviert werden kann wie Alter, muss Alter sein Erleben mitteilen. Es geht also nicht um das tatsächliche, psychische Erleben Alters, sondern nur um das durch Worte oder Handlungen mitgeteilte Erleben. Diese können dann bei Ego den Eindruck gleichen oder ähnlichen Erlebens auslösen. Alter wiederum kann dies nur wissen, wenn Ego ihm dies bestätigt oder eben nicht. Dass dies sehr leicht zum Problem werden kann, wird schon an der grundlegenden Problemstellung der Kommunikation deutlich, dass kein identisches, psychisches Erleben erreicht werden kann. Im Alltag spielt dies noch keine große Rolle, weil der Eindruck eines gleichgerichteten Erlebens durch gemeinsam geteilte Wissensbestände hinsichtlich der gemeinsam geteilten Welt sowie gemeinsam geteilter Zeichen und Symbole erreicht werden kann. Problematisch wird es allerdings sobald es um die Kommunikation von ungewöhnlichem Wissen geht, dass nicht sofort überprüft werden kann, wie z. B. die String-Theorie oder Gott. Das Problem, um dass es geht, ist die Synchronisierung oder Angleichung des psychischen Erlebens in Bezug auf ungewöhnliches Wissen.

Dieses Problem kann auf unterschiedliche Weise gelöst werden. Eine Lösung wäre der Bezug auf Transzendenz, die Unerreichbarkeit des Erkenntnisobjekts. Diesen Weg hat die Religion genommen und rekurriert dabei auf einen unerreichbaren Gott. Doch seit Durkheim weiß man, dass sich Gesellschaften in Form von Gott eine Vorstellung von sich selbst machen (vgl. Durkheim 1994). Mit zunehmender Fragwürdigkeit der Gottesvorstellung schwenkte man daher vor allem in der Politik auf Ideologien um. Statt den Umweg über Gott zu gehen, boten sie gleich ein Deutungsangebot der Gesellschaft inklusive entsprechender Erwartungen an deren Mitglieder an. Sowohl Glaubenssysteme als auch politische Ideologien boten einen holistischen Entwurf der gemeinsam geteilten Welt an. Der Vorteil eines solchen Deutungsangebots ist es, wenn ihn alle teilen würden und damit alle die gemeinsame Welt gleich erleben, dann werden auch alle in Bezug auf diese Welt gleich handeln. Darin bestand die ursprüngliche Leistung der Religion, später der politischen Ideologien. Eine abgeschwächte Form davon ist der Glaube an Moral. Dieser versucht seine Legitimität ebenfalls durch die Berufung auf die Autorität der unerreichbaren Gesellschaft zu behaupten. Dazu dient die Annahme einer allen Menschen gemeinsamen Vernunft. Woraus sich dann bestimmte erwünschte und unerwünschte Handlungen ableiten lassen, welche für alle Menschen gelten sollen. Dass man sich in der modernen Gesellschaft kollektiv verbindlich nur noch auf die unerwünschten Handlungen als kleinsten gemeinsamen Nenner einigen kann, wurde bereits mit Blick auf Politik und Recht angemerkt. Darin liegt auch der Grund warum Religionen, politische Ideologien und Moral für andere Funktionssysteme so häufig zu einem Störfaktor werden. Sie beanspruchen eine Führungsposition für die Gesellschaft, die ein einseitiges und kein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis begründet. Während es für Religion als Lösung für individuelle Sinnsuche durchaus noch eine Nische in der modernen Gesellschaft gibt [13], lassen sich politische Ideologien und Moral nicht zu einem autonomen Funktionssystem konditionieren, das jeweils eine alleinige Führungsrolle von der Spitze her beanspruchen kann. Beide würden ständig in Konflikt mit den Systemrationalitäten der anderen Funktionssysteme, aber auch den Lebensentwürfen der meisten Menschen, geraten, was die Annahmebereitschaft für politische Ideologie und Moral immer weiter senkt.

Eine weitere Möglichkeit das psychische Erleben zu synchronisieren liegt im Bezug auf Wahrheit. Während die Religion ihren Wahrheitsanspruch durch die Transzendenz des Erkenntnisobjekts behauptet, konzentriert die Wissenschaft ihre Methoden auf die fortlaufende Überprüfung des selbst produzierten Wissens. Aus psychischer Sicht bleibt die materielle und soziale Umwelt, also potentielle Erkenntnisobjekte, trotzdem operativ unerreichbar. Eine direkte Erkenntnis der Umwelt ist also nicht möglich. Somit kann es nur darum gehen Methoden zu entwickeln, mit denen Wissenschaftler nachvollziehen können, wie andere Wissenschaftler auf ihre Ergebnisse gekommen sind. Die Methoden sind Beobachtungsanweisungen. Beobachtet man auf dieselbe Weise, kommt man zu denselben Ergebnissen. Diese Methoden sind jedoch nicht unfehlbar und führen daher nicht zu unumstößlichen Wahrheiten. Vielmehr ist die Vorläufigkeit des produzierten Wissens der Anlass trotzdem weiter zu machen. Das bezieht sich aber nicht mehr nur auf das produzierte Wissen, sondern auch auf die Methoden der Wissensproduktion. Erst mit der wechselseitigen Beobachtung der Methoden kam es zu operativen Schließung der Wissenschaft und zur Abgrenzung gegenüber der Religion als härtestem Konkurrenten. Aber selbst das kann nicht verhindern, dass die Wissenschaft gelegentlich als Ersatzreligion missverstanden wird. 


Alter erlebt - Ego handelt 

Ein bestimmtes Erleben des Mitteilenden (Alter) soll den Adressaten (Ego) zu einem bestimmten Handeln motivieren. Das bedeutet, Ego handelt aufgrund seiner Annahmen über das Erleben Alters. Diese Annahmen konnte Ego bilden, weil Alter zu einem früheren Zeitpunkt – das muss nicht die jeweils aktuelle Situation sein – mitgeteilt hat, wie er oder sie einen bestimmten Sachverhalt erlebt. Auch dies scheint zunächst relativ selbstverständlich zu sein. Jeder muss für die Beteiligung an Kommunikation auf das Erleben seines Kommunikationspartners durch das gezeigte Verhalten zurückschließen können, um seine zukünftigen Handlungen daran ausrichten zu können. Konditionierungsbedarf entsteht aber auch hier sobald es um die Annahme hoch individualisierten Erlebens geht, dass als Grundlage für das eigene Handeln dienen soll. Auf dieses Problem haben sich Liebe und Erziehung spezialisiert.

Liebe motiviert die Annahme der kompletten Weltperspektive des Partners. Das betrifft sowohl seine Sicht auf die Welt als auch sein Selbstverständnis. Die einzige Chance in der modernen Gesellschaft als Person annährend vollständige Anerkennung zu finden, liegt daher in der Codierung von Intimität, also der Preisgabe höchstpersönlicher Informationen über sich selbst, die man nicht jedem mitteilt. Das Wissen über die Vorlieben und Abneigungen des Beziehungspartners eröffnet und schließt dann Egos Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf Alter. Der Steigerungszusammenhang wird dann über die Vorlieben hergestellt, in dem man dem Partner z.B. zeigt, dass man eine bestimmte Handlung deswegen gewählt hat, weil man weiß, dass es der Partner mag. Zuvorkommenheit ist eine Methode, wie man zeigen kann, dass man das Erleben der Partnerin in seine Handlungen miteinrechnet. Häufig wird es auch mit Geschenken versucht. Mit den richtigen Geschenken kann dies eine geeignete Variante sein, der Partnerin zu zeigen, dass man auf ihr Erleben eingeht. Geschenke allein sind aber noch kein Liebesbeweis und können unter Umständen sogar zeigen, dass man das Erleben der Partnerin gerade nicht berücksichtigt [14]. Läuft der Steigerungszusammenhang dagegen nicht über die Vorlieben, sondern über die Abneigungen, dann handelt es sich um die Kommunikation von Hass. Eine Handlung wird von Ego deswegen gewählt, weil er weiß, dass es Alter nicht gefällt. Ein auf eine bestimmte Person bezogener Hass erfordert im Grunde ein genauso großes Maß an Intimität wie Liebe. Dies zeigt sich häufig, wenn eine gescheiterte Ehe in einem Rosenkrieg endet. Alles andere, wie z. B. Rassismus, ist eigentlich kein Hass, sondern sture Ignoranz, die aus dem Beharren auf den eigenen Vorurteilen resultiert. Klischees verhindern die Beobachtung, wie sich die beobachtete Person gerne selbst sehen möchte. Man sieht damit nur, wie man selbst die Person gerne sehen möchte und drängt sie dann in eine Rolle, in die sie nicht gedrängt werden möchte. Es handelt sich also eher um einen Mangel an Irritationsfähigkeit, dem durch diese Klischees erst Vorschub geleistet wird.

Erziehung ist eine weitere Funktion, die mit ihren Konditionierungen an dieser Problemkonstellation „Alter erlebt und Ego handelt“ ansetzt. Hier geht es jedoch nicht um die beinahe vollständige Anerkennung des Zöglings durch den Erzieher. Die besondere Herausforderung für den Erzieher besteht darin, herauszufinden wie der Zögling die ihm präsentierten Informationen, von denen erwartet wird, dass er sie lernt, verarbeitet. Der Zögling ist damit der erlebende Alter und der Erzieher ist Ego, der aufgrund des Erlebens von Alter handelt. Ein Lehrer beobachtet seinen Schüler also nicht daraufhin, ob er etwas gelernt hat, sondern wie er es gelernt hat. Ziel ist die Identifizierung effizienter Lehr- und Lernmethoden. Dafür ist es von Seiten des Lehrers notwendig entsprechend genau zu beobachtet, wie der Schüler etwas erlebt, damit der Lehrer erkennt, welche bisher eingeübten Beobachtungsgewohnheiten auf Seiten des Schülers die Aufnahme eines bestimmten Wissens unterstützen oder behindern. Der Lehrer muss die blinden Flecken des Schülers erkennen, die die Verarbeitung der zu lehrenden Informationen blockieren. Der nächste Schritt liegt darin, dem Schüler beizubringen, wie er diese blinden Flecke selbst finden und ausfüllen kann. Dann geht es nicht mehr um das Erlernen eines bestimmten Wissens, sondern um das Lernen des Lernens. Zur operativen Schließung des Erziehungssystems kommt es dann über die wechselseitige Beobachtung der Erzieher hinsichtlich erfolgreicher Lehrmethoden.



Das soziologische Grundproblem sowie die vier daraus abgeleiteten Probleme bilden die interaktionstheoretische Fundierung der Luhmannschen Gesellschaftstheorie. Auf diese Weise ist es möglich bei, für jeden nachvollziehbaren, Alltagsbegegnungen anzusetzen. Da jeder Mensch potentiell mit diesen Kommunikationsproblemen konfrontiert werden kann, ist es möglich die Anzahl der beteiligten Menschen schrittweise bis zur Weltgesellschaft zu erweitern. Auf diese Weise ist es zugleich möglich das Konkreteste, Kommunikation, und das Abstrakteste, Gesellschaft, gleich zusetzen. Diese Gleichsetzung darf aber nicht zu dem oben kritisierten theoretischen Kurzschluss zwischen Kommunikation und Gesellschaft führen. Es ist daher eine Interdependenzunterbrechung notwendig. Das gilt sowohl theoretisch, wie empirisch. Die Gesellschaft benötigt Schutzvorkehrungen, damit nicht jedes Ereignis im Rahmen einer Interaktionssituation unmittelbare Folgen für die Gesamtgesellschaft zeitigen kann. Diese Interdependenzunterbrechung zwischen der Interaktions- und der Gesellschaftsebene wird durch Organisation erreicht. Mit Hilfe von Organisation lassen sich Konditionierungen in Form von Negationsmöglichkeiten in Kommunikationsprozesse einbauen. Auf diese Weise werden die Freiheitsgrade für Anschlusskommunikationen eingeschränkt und Anschlüsse in eine bestimmte Richtung wahrscheinlicher gemacht. Sobald dieses Konstruktionsprinzip durch Selbstbeobachtung erkannt wurde, lassen sich die Konditionierungen Schritt für Schritt verfeinern und die Interdependenzunterbrechung verstärken. Diese Steigerungen der Eigenkomplexität sind allerdings nur durch eine Beobachtung auf Programmebene möglich, d. h. wie lösen andere Organisationssysteme dasselbe Problem. Auf gesellschaftstheoretischer Ebene rückt damit der Begriff der Kontingenzformel in den Blick und muss empirisch unterfüttert werden.

Kontingenz als Hinweis auf andere Lösungsmöglichkeiten für dasselbe Problem ist gleichsam ein Nebenprodukt von Organisationsprozessen. Entscheidungen können nur im Kontext anderer Möglichkeiten getroffen werden. Ohne andere Möglichkeiten handelt es sich nicht um eine Entscheidung, sondern um einen fixierten Determinismus. Auch hier kommt wieder die Selektivität von Kommunikation zum Tragen. Das Aufscheinen anderer Möglichkeiten löst alte Gewohnheiten und damit auch Notwendigkeiten auf, was zu einer erheblichen Verunsicherung führen kann. Auf diese Weise wird ein neues Problem erzeugt, nämlich wie erlangt man alte Sicherheiten unter veränderten Voraussetzungen wieder. Dies gelingt nur über die Entwicklung von Entscheidungskriterien, um eine Entscheidung treffen zu können. Der Prozess der Entscheidungsfindung gestaltet sich damit als ein Aussortieren von Möglichkeiten und verwandelt Kontingenz wieder in Notwendigkeit. Da sich diese Prozesse der Entscheidungsfindung selbst wiederum unterschiedlich, also kontingent, gestalten, kann die operative Schließung der einzelnen Funktionssysteme durch Selbstbeobachtung erst durch die Beobachtung der Programme, genauer der Konditionalprogramme, erfolgen und zu einem selbstverstärkenden Prozess, der Konditionierung von Konditionierungen, werden. Wenn Luhmann die Kontingenzformel eines Funktionssystems als „ein Programm für alle Programme“ (vgl. 1995, S. 217) beschreibt, dann ist das nur eine andere Beschreibung für denselben Sachverhalt.

Hinsichtlich einer empirischen Anwendung muss allerdings mit Luhmann noch einmal betont werden, dass es nicht das Ziel ist, mit den oben beschriebenen Problemkonstellationen jede soziale Situation zu klassifizieren (vgl. 1997, S. 337). Es handelt sich um Kommunikationsprobleme, die für die sozialen Systeme erst relevant werden, wenn Kommunikationsprozesse nicht in der gewohnten Weise verlaufen. Erst dann fangen Systeme an sich selbst zu beobachten und ihre bisherigen Wirklichkeitskonstruktionen zu hinterfragen, was dann unter Umständen zu neuen und präziseren Problemkonstruktionen führen kann. Ob und wie das geschieht, ist eine empirische Frage. Desweiteren muss betont werden, dass mit der Identifikation der Problemkonstellationen noch kein Funktionssystem der Gesellschaft identifiziert wurde, sondern nur Kristallisationspunkte, an denen mehrere Funktionssysteme ansetzen, um die Annahme eines unwahrscheinlichen Kommunikationsangebots zu motivieren. Auch hier trifft man wieder auf das Prinzip funktionaler Äquivalenz. Ein Problem kann offenbar unterschiedlich gelöst werden. Entscheidend für die weitere Analyse ist deswegen die Frage, wie das Problem gelöst wird. Erst über die unterschiedlichen Formen der Lösung eines Problems lassen sich die Funktionssysteme der Gesellschaft voneinander unterscheiden. Also gilt es Unterschiede in den Kommunikationsprozessen zu finden. Diese Unterschiede liegen in der jeweiligen Codierung eines Kommunikationsangebots. Wenn Handeln eine Funktion von Erleben ist, dann folgt daraus, dass die Unterscheidungsarrangements identifiziert werden müssen, die das psychische Erleben der Menschen so konditioniert haben, dass sie auf eine bestimmte Weise handeln, um ein bestimmtes Kommunikationsproblem zu lösen. Die Frage nach dem Code der Funktionssysteme und der Codierung von Kommunikation wird das Thema des zweitens Teils sein. 





[1] Siehe für eine ausführliche Darstellung durch Luhmann selbst zum einen das Kapitel „Kommunikation und Handlung“ in „Soziale Systeme“ (1984) und zum anderen das Kapitel „Beobachten“ in „Die Wissenschaft der Gesellschaft“ (1992).

[2] Gemeinhin wird angenommen, dass diese Funktion zur Überbrückung der Trennung zwischen psychischen und sozialen Systemen der Sinnbegriff übernimmt. Dies wird nicht bestritten. Während der Sinnbegriff auf die Systemstrukturen abzielt, bezieht sich der Beobachtungsbegriff auf die Operationen von Systemen. Zur Beziehung zwischen Sinn und Beobachtung siehe auch den Text „Die Beobachtung der Beobachtung“. Sinn wird darin als das Ergebnis, das Kondensat von Beobachtungen aufgefasst. Beobachtungen produzieren zunächst nur Informationen, die sich erst in einem Kontext, als neu und informativ oder als redundant und sinnhaft darstellen.

[3] Die Inklusions- und Exklusionsprozesse müssten eigentlich als Desintegations- und Integrationsprozesse beschrieben werden. Darauf an dieser Stelle einzugehen, würde zu weit vom Thema wegführen. Siehe für einen ersten Versuch, sich der Beschreibung von Integrations-/Desintegrationsprozessen zu nähren den früheren Text über Amokläufer.

[4] Mit der Möglichkeit unter abwesenden Personen zu kommunizieren, ändern sich die Anforderungen für erfolgreiche Kommunikation. Weil es bei schriftlicher Kommunikation via Buch oder Brief keine unmittelbaren Feedbackmöglichkeiten gibt, wird  Reflexivität zur Bedingung um erfolgreich zu kommunizieren. Ohne eine Vorstellung darüber, wie ein möglicher Adressat das Kommunikationsangebot beobachten könnte, ist es nur sehr schwer möglich erfolgreich mit Abwesenden zu kommunizieren. Bereits das Schreiben eines Briefes an eine bekannte Person stellt hohe Anforderungen an das Einfühlungsvermögen des Verfassers. Diese Anforderungen werden beim Verfassen eines Textes oder eines Buches, die sich an ein unbekanntes Publikum richten, nochmals immens gesteigert. Wer nicht in der Lage ist mögliche Einwände oder Kritik beim Verfassen eines Textes mit einzurechnen und vorausschauend darauf einzugehen, wird nur schwerlich jemanden zur Annahme eines Kommunikationsangebots motivieren können.

[5] Dass die Leistung der Wahrnehmung darin besteht, Irritationen zu unterdrücken, wurde analog zu Luhmanns Konzeption von Gedächtnis formuliert. Luhmann sah die Leistung des Gedächtnisses im Vergessen. Beides sind nur negative Formulierungen für die Leistung der Komplexitätsreduktion. Für eine bestimmte Wahrnehmung müssen viele andere ignoriert werden. Um sich an etwas Bestimmtes erinnern zu können, muss vieles andere vergessen werden.

[6] Interpenetrationsprozesse als Prozesse der systeminternen Konstruktion der relevanten Umwelten lassen sich auch mit dem Spencer-Brownschen Begriff der konditionierten Koproduktion (vgl. 1997, S. IXf.) beschreiben. Der Begriff stellt auf das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt, Beobachter und Beobachtetem bzw. System und Umwelt ab. Beobachtet man aber die Differenzierung der Unterscheidung von Kommunikation und Psyche, dann beobachtet man mindestens drei Prozesse konditionierter Koproduktion: zum einen den von Kommunikation und zum anderen die der beteiligten Personen.

[7] Die Axiome 4 und 5 wurden von Laing/Phillipson/Lee übernommen (vgl. 1976, S. 20).

[8] Es sei noch angemerkt, dass in den Axiomen 1 bis 6 bereits ein re-entry vollzogen wurde. Durch diese 6 Axiome wird die Aufmerksamkeit eines soziologischen Beobachters auf soziale Systeme gelenkt – zunächst auf Bezeichnungen in Form von Worten und dann in Form von Handlungen. Worte bzw. Sprache bekommen dabei den Vorrang, weil Sprechen eine spezielle Form des Handelns ist. Aber Aufmerksamkeit kann eben nicht nur durch Sprache auf etwas gelenkt werden, sondern auch durch nicht-sprachliches Handeln. Da jedoch Handeln und Erleben nachträglich mit Worten beschrieben werden muss, damit beides thematisiert werden kann, erhält Sprache den theoretischen Vorrang. Mithin entfaltet sich erst mit Sprache, die Abwesendes thematisieren kann, das volle Reflexionspotential der Sprache, welches durch andere Formen des Handelns nicht erreicht werden kann. Dieser Umstand wird dadurch berücksichtigt, dass Axiom 6 auf Axiom 3 verweist. Die Differenz Unterscheidung/Bezeichnung wird im Übergang von Axiom 3 zu Axiom 4 anders bezeichnet, nämlich als Erleben/Handeln. Der Vorgang, Dasselbe anders zu bezeichnen, wird hier als Modulation bezeichnet. Die Differenz System/Umwelt, wobei hier soziale Systeme in Form der beobachtbaren Verhaltensströme zwischen Menschen gemeint sind, wird also für die Axiome bereits zweimal moduliert: System/Umwelt -> Bezeichnung/Unterscheidung -> Handeln/Erleben. Es sei nochmals betont, dass der Zweck dieser Axiome darin besteht, die Aufmerksamkeit auf das gemeinsame Zentrum der Aufmerksamkeit aller Beteiligten zu lenken. Die Axiome führen aber auch an sich selbst vor, wie zu verfahren ist, wenn es zur Selbstbeobachtung kommt. Es gilt dann solche Vorgänge empirisch zu beobachten, um Prozesse der Systemdifferenzierung zu beschreiben.

[9] Das hier andere Entscheidungen bei der Rekonstruktion der soziologischen Systemtheorie getroffen werden, liegt an einer kleinen, aber entscheidenden Abweichung von Spencer-Browns Verständnis seiner „Laws Of Form“. Spencer-Brown sagt über sein Buch, dass es darin um Nichts geht. Baecker folgt Spencer-Browns Lesart und sagt ebenfalls, dass es in „Beobachter unter sich“ um nichts geht (vgl. 2013, S. 9). Dieser Lesart wird hier nicht gefolgt, denn dem Nichts wurde in „Die Beobachtung der Beobachtung“ ein anderer theoretischer Stellenwert zu gewiesen. Man kann diese Abweichung im Hinblick auf Spencer-Brown und Baecker folgendermaßen formulieren. Hier geht es nicht um Nichts, sondern um Etwas. Mehr noch, geht es nicht nur um ein Etwas, sondern um viele Etwase, welche das Erleben und Handeln der Menschen strukturieren. Das Nichts ist informationstheoretisch betrachtet wertlos und kann deswegen nicht das Erleben und Handeln strukturieren. Siehe dazu auch hier die Anmerkungen zur BR2-Sendung über Spencer-Brown vom 29.09.2013.

[10] George Herbert Mead platzierte seinen Sinnbegriff genau in der Differenz zwischen vorhergehender und anschließender Handlung: „Sinn leitet sich somit aus der Reaktion ab.“ (1973, S. 116)

[11] Wenn hier von Glück die Rede ist, dann ist damit die Erfahrung gemeint, die Mihaly Csikszentmihaly als Flow beschreibt (vgl. 2010). Darauf wird noch zurückzukommen sein.

[12] Auch das Funktionssystem der Massenmedien differenziert sich an der Problemstellung „Alter handelt und Ego erlebt“ aus. Ähnlich der Wirtschaft muss Ego auch bei massenmedialer Kommunikation zunächst akzeptieren, dass er nur passiver Zuschauer dabei sein kann, wie Alter Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Ego kann seine eigene Passivität nur akzeptieren, wenn ihm ebenso die Möglichkeit gegeben wird, Aufmerksamkeit so auf sich zu lenken, wie er es für richtig hält. Da das Funktionssystem der Massenmedien bereits im letzten Blogbeitrag ausführlicher behandelt wurde, wird an dieser Stelle auf weitere Ausführungen verzichtet.

[13] Siehe für die Chancen der Religion unter modernen Kommunikationsbedingungen einige weiterführende Gedanken hier.

[14] Für einige weitere Gedanken zum Thema Liebe, die direkt an der Problemkonstellation ansetzen, siehe hier. 


Literatur
Baecker, Dirk (2013): Beobachter unter sich. Eine Kulturtheorie. Suhrkamp Verlag Berlin 
Bateson, Gregory (1982): Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 
Bateson, Gregory (1985): Vorstudien zu einer Theorie der Schizophrenie. In: ders: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. S. 270 – 301 
Csikszentmihaly, Mihaly (2010): Flow. Das Geheimnis des Glücks. 15. Auflage Klett-Cotta Stuttgart 
Durkheim, Emile (1994): Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 
Goffman, Erving (1980): Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 
Goffman, Erving (1986): Techniken der Imagepflege. In ders: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. S. 10 – 53 
Karafillidis, Athanasios (2010): Soziale Formen. Fortführung eines soziologischen Programms. transcript Verlag Bielefeld 
Laing, Ronald D./Phillipson, Herbert/Lee, A. Russel (1976): Interpersonelle Wahrnehmung. 3. Auflage Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 
Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 
Luhmann, Niklas (1987): Tautologie und Paradoxie in den Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft. In: Zeitschrift für Soziologie Jg. 16 Heft 3, S. 161 - 174 
Luhmann, Niklas (1992): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 
Luhmann, Niklas (1993): Die Paradoxie der Form. In: ders: Aufsätze und Reden. Reclam Verlag Stuttgart. S. 243 – 261 
Luhmann, Niklas (1995): Das Recht der Gesellschaft. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 
Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 
Luhmann, Niklas (2005): Erleben und Handeln. In: ders: Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Wiesbaden 4. Auflage. S. 77 – 92 
Luhmann, Niklas (2011): Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat. Olzog Verlag München 
Maturana, Humberto R./Varela, Francisco J. (2012): Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. 5. Auflage S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 
Mead, George Herbert (1973): Geist, Identität und Gesellschaft. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 
Ruesch, Jürgen/Bateson, Gregory (2012): Kommunikation. Die soziale Matrix der Psychiatrie. 2. korrigierte Auflage Carl-Auer-Systeme Verlag Heidelberg 
Spencer-Brown, George (1997): Laws Of Form. Gesetze der Form. Bohmeier Verlag Lübeck 
Turner, Victor (2005): Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Neuauflage Campus Verlag Frankfurt am Main

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