Jetzt erleben wir diese neue Phase des alten Kampfes, der
nicht mehr Kampf der heute vom Leben gefüllten Form gegen die alte, leblos
gewordene ist, sondern den Kampf des Lebens gegen die Form
überhaupt, gegen das Prinzip der Form.
Georg Simmel*
Sterben ist nichts Besonderes. Das Knifflige ist das
Leben.
Red Smith
Das Jahr 2015
ist noch längst nicht vorbei, aber bereits jetzt kann man wohl ohne zu
übertreiben sagen, dass dieses Jahr unter den Zeichen von Amok und Terror
steht. Man denke nur an den blutigen Überfall auf die Redaktion der
französischen Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« am 7. Januar 2015. Am 24. März
2015 wurde die Germanwings-Maschine 4U9525 durch den Copiloten in voller
Absicht zum Absturz gebracht und kostete weitere 149 Menschen das Leben. Am 17.
Juni 2015 wurden neun Mitglieder einer schwarzen Kirchengemeinde in Charleston
von einem 21jährigen Weißen erschossen. Als Motiv gab er Rassismus an. Am 26.
Juni 2015 ereigneten sich an einem Tag Anschläge in Frankreich, Tunesien und Kuweit mit mutmaßlich islamistischem Hintergrund. Rätsel gibt speziell der
Fall von Saint-Quentin-Fallavier nahe Lyon auf, da die Tat viele Merkmale
islamistischer Anschläge trägt und der Täter sich zunächst auf den Islam
berief, später aber diese Angabe wieder revidierte. Es steht zu befürchten, dass sich zum Jahresende noch weitere Ereignisse dieser Art aufzählen lassen. Betrachtet man darüber
hinaus ähnliche Ereignisse, wie die islamistische
Anschlagsserie in Midi-Pyrénées im Jahr 2012 so scheint es immer
schwieriger zu werden Terroranschläge und Amoktaten voneinander zu
unterscheiden. Die Vorbereitung und die Ausführungsmodi werden ähnlicher und
man kann nicht genau sagen, ob es sich bei Amokläufen um privatistischen Terror
einzelner Personen und bei Selbstmordanschlägen um ideologisch verbrämte
Amokläufe handelt.
Die
Grenzen scheinen zu verschwimmen. Die bekannten Kategorien zur Beobachtung
solcher Phänomene erlauben anscheinend keine eindeutige Bestimmung mehr. Auf
der Grundlage dieses Eindrucks wird nun von einigen Beobachtern die Vermutung
geäußert, dass es keinen Unterschied mehr zwischen Amok und Terror gibt.
Einzeltäter, wie Amokläufer und Terroristen, werden als »Hybride« (Kron/Heinke
2011, S. 284) bezeichnet, um auf das Versagen der bekannten Kategorien
aufmerksam zu machen. Sofern man nicht über die reine Deskription hinausgeht, ist
dieser Eindruck durchaus nachvollziehbar. Bedeutet das aber schon, dass diese
beiden Kategorien ihren Zweck verloren haben? Funktionieren sie wirklich nicht mehr zur Beobachtung der
sozialen Wirklichkeit? Aus einer solchen Schlussfolgerung würden sich zwei Konsequenzen
ergeben. Man kann dann entweder behaupten, es gäbe weder Amok noch Terror oder
es gäbe sowohl Amok als auch Terror. Aber was wäre mit diesen Lösungen gewonnen?
Diese Frage wird
umso dringlicher, wenn nicht ersichtlich ist, welche Kategorien an ihre Stelle
treten sollen. Die Rede von »Hybriden« scheint lediglich eine Verlegenheitslösung
zu sein, die sich mit einem Missstand abgefunden hat. Sie weist
lediglich darauf hin, dass sich bestimmte Unterscheidungen offenbar nicht mehr
dazu eignen, einen Unterschied zu markieren, der einen Unterschied macht. Gelöst
wird dieses Problem durch die Rede von »Hybriden« jedoch nicht. Vielmehr werden
unter diesem Begriff die verschwimmenden Kategorien zusammengezogen ohne dass dadurch das Gemeinsame
im Verschiedenen bezeichnet wird. Das Gemeinsame scheint sich im Verschiedenen
zu erschöpfen. Mit der Rede von »Hybriden« ist keine Abstraktions- bzw.
Generalisierungsleistung verbunden, ein Erkenntnisgewinn nicht ersichtlich. Sie scheint stattdessen erst das herbeizuführen, von dem angenommen wird, das es ein Merkmal der sozialen Wirklichkeit ist.
Daher ist der Eindruck, dass vormals distinkte Kategorien zu verschwimmen scheinen, noch längst kein Hinweis auf
neue Qualitäten der beobachteten Phänomene, sondern lediglich ein Hinweis auf die
Schwachstelle der beobachtenden Theorie, die nicht mehr in der Lage ist die
Komplexität der beobachteten Phänomene angemessen begrifflich zu erfassen.
Vielleicht müssen gar keine neuen Kategorien erfunden, sondern die alten
einfach nur sorgfältiger ausgearbeitet werden? Zu einfach gestrickte Kategorien
werden sehr schnell durch den Gegenstand, den sie bezeichnen sollen, ad
absurdum geführt. Diesem Problem kann man nur Herr werden, wenn man die
Beobachtungsmittel anpasst. Sei es durch Differenzierung der Bezeichnung zu
einer Beschreibung, sei es durch das Oszillieren zwischen zwei Begriffen (vgl.
Luhmann 1992, S. 124), um beide in Abhängigkeit voneinander in einer
konditionierten Koproduktion (vgl. Spencer Brown 1997 [1969], S. IXf.) zu
differenzieren. Letzteres soll im Folgenden versucht werden. Hier wird der
große Vorteil der soziologischen Systemtheorie zum Tragen kommen, nämlich dass man die Phänomene
mit einer komplexen Erwartungshaltung konfrontieren und die interessierenden Phänomene
methodisch kontrolliert de- und rekonstruieren kann.