Mittwoch, 13. Februar 2013

Das Unbehagen an der Systemtheorie



Diesem Blog dient unter anderem die soziologische Systemtheorie Niklas Luhmanns als Grundlage für die hier vorgestellten Gedanken. Bereits mit dem Namen „Beobachter der Moderne“ wird Niklas Luhmann die Reverenz erwiesen. Seine Theorie der Gesellschaft erregt bis heute vor allem dadurch Aufsehen, dass sie Menschen nicht mehr als Teile der Gesellschaft betrachtet wie dies klassische soziologische Theorien getan haben und viele soziologische Ansätze bis heute tun. Der Grund für diese Theorieentscheidung ist die Annahme, dass soziale Systeme operativ geschlossen sind. Das bedeutet die jeweiligen Operationen eines sozialen Systems schließen rekursiv an die eigenen Operationen an. Dass dies nicht nur eine theoretische Annahme ist, sondern auch eine empirische Tatsache lässt sich schon allein dadurch einsichtig machen, dass auch psychische Systeme operativ geschlossen sind. Gedanken schließen immer nur an Gedanken an. Sie schließen operativ immer an die eigenen Gedanken an und niemals an fremde Gedanken. Und genauso wie Operationen eines psychischen Systems niemals in die Operationen eines anderen psychischen Systems eingreifen können, so können auch die Operationen eines sozialen Systems niemals in die Operationen eines psychischen Systems eingreifen. Wenn man die Gesellschaft als ein soziales System beschreibt, dessen Operationen sich von denen psychischer Systeme unterscheiden, dann können mit Psychen ausgestattete Menschen nicht Teile der Gesellschaft sein, sondern sie müssen zur Umwelt der Gesellschaft gehören.

Ob es einem gefällt oder nicht, hinter diesen Befund kommt man nicht mehr zurück. Die Anschlussfähigkeit soziologischen Wissens wird sich unter anderem auch daran erweisen, ob diese Problemstellung ernst genommen wird oder nicht. So vermag denn auch der moralische Vorwurf der Inhumanität nicht wirklich überzeugen. Dieser gründet auf dem Eindruck Systemtheoretiker wollten die Menschen aus der Gesellschaft ausschließen. Sofern es nur um die Theorieentscheidung geht, ist diese Beobachtung vollkommen zutreffend. Diese jedoch moralisch zu kritisieren, zeigt dass diejenigen, die die soziologische Systemtheorie auf diese Weise beobachten, letztlich die nicht ernst nehmen, um die es eigentlich geht, nämlich die vermeintlich ausgeschlossenen Menschen. Genauer gesagt, missachten die moralischen Kritiker der Systemtheorie die operative Autonomie psychischer Systeme. Der Vorwurf der Inhumanität dient letztlich nur dazu die eigenen Exklusionsängste zu artikulieren. Diese sind im Anbetracht ihrer grobschlächtigen Beobachtungsweise durchaus berechtigt. Würde man sich aber genauer mit den Gründen für die kritisierte Theorieentscheidung auseinander setzen, könnte man sehen, dass die soziologische Systemtheorie der falsche Adressat für diese Art von Kritik ist. Mit dem Aufkommen der Akteur-Netzwerk-Theorie können sich Systemtheoretiker zumindest damit trösten, dass sie nicht mehr die alleinige Zielscheibe für den Vorwurf der Inhumanität sind.

Die operative Autonomie psychischer Systeme zu ignorieren, hieße auch sich den Blick für das Bezugsproblem der Soziologie zu verstellen. In klassischer Weise wird es als Frage nach dem Zusammenhalt der Gesellschaft gestellt. Wenn jedoch die Operationen eines psychischen Systems nicht in die Operationen eines anderen psychischen Systems eingreifen können, dann verschärft sich sogar noch die Problemstellung indem man fragen muss, wie Gesellschaft überhaupt möglich ist? Eine Antwort kommt in den Blick, wenn man nach der spezifisch sozialen Operation fragt im Unterschied zu den Operationen psychischer Systeme. Psychische Systeme benötigen nur ein System, um sich zu reproduzieren – sich selbst. Soziale Systeme sind dagegen auf mindestens zwei psychische Systeme in ihrer Umwelt angewiesen, um sich reproduzieren zu können. Die Frage nach dem Zusammenhalt der Gesellschaft transformiert sich mit der Annahme der operativen Autonomie von Systemen in die Frage, wie es zwei für einander operativ unerreichbaren psychischen Systemen möglich ist ihr Handeln an einem gemeinsamen Ziel auszurichten? Aus dem Koordinationsproblem von mindestens zwei Menschen erwächst damit die konstituierende Problemstellung der Soziologie und unterscheidet sich zunächst von der Psychologie als Wissenschaft von der Funktionsweise psychischer Systeme. Soziale Systeme sind somit Sequenzen von Handlungsketten. Wobei Handlungen die einzelnen Ereignisse sind, die erst in Bezug aufeinander zur Kommunikation werden. Folgt auf eine Handlung keine Anschlusshandlung, kann man auch nicht von Kommunikation sprechen.

Die Beteiligung von mindestens zwei Menschen schließt es aus, dass eine soziale Situation vollständig durch einen der beteiligten Menschen kontrolliert werden kann. Es kommt hinzu, dass die beteiligten Menschen die gleiche Situation jeweils aus einer anderen Perspektive beobachten und trotzdem ihre Handlungen aufeinander abstimmen müssen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Der Begriff „sozial“ stellt damit auf ein gleichgerichtetes Erleben von mindestens zwei Menschen ab. Wenn die operative Geschlossenheit psychischer Systeme genau das verhindert, stellt sich die Frage, wie der Eindruck von Intersubjektivität trotzdem zustande kommen kann [1]? Der Begriff „sozial“ bezeichnet damit eine Problemstellung. Dieses Problem ändert sich auch nicht, wenn man die Unterscheidungen von Gesellschaft und Natur und von Mikro- und Makro-Ebene für irrelevant erklärt. Gesellschaft findet überall dort statt, wo mindestens zwei Menschen miteinander in Kontakt treten. Mit diesem Problem der Handlungskoordination bei divergentem Erleben der Beteiligten werden alle Menschen konfrontiert, egal ob es nur zwei oder sieben Milliarden Menschen betrifft. Dieses Problem ist der Anlass für die Emergenz sozialer Systeme (vgl. Luhmann 1984, S. 162). Dies sei im Hinblick auf theoretische Ansätze bemerkt, die voreilig ein Ende des Sozialen ausrufen wollen (Latour 2001, S. 1f.). Das würde bedeuten die konstituierende Problemstellung der Soziologie aufzugeben. Die Antwort, die die soziologische Systemtheorie auf die Frage, wie der Eindruck gelingender Intersubjektivität entstehen kann, gibt, lautet: durch Kommunikation.

Trotz der theoretischen und empirischen Plausibilität von Luhmanns Theorieentscheidung stellen sich doch spätestens dann Phantomschmerzen ein, wenn es darum geht über den Menschen aus systemtheoretischer Perspektive noch etwas Sinnvolles zu sagen. Um dieses Unbehagen zu kompensieren, wurde in diesem Blog von Anfang an nicht ausschließlich auf Niklas Luhmanns Systemtheorie gesetzt. Wenn hier vom Sozialen im Unterschied zum Psychischen gesprochen wird, dann kann das Soziale zwar nicht auf das Psychische reduziert werden, trotzdem sind soziale Systeme und psychische Systeme strukturell miteinander gekoppelt. Das heißt nichts anderes als dass es ohne psychische Systeme keine sozialen Systeme gibt. Für die Analyse von sozialen Systemen ist es daher unerlässlich auch das psychische Erleben der Menschen zu berücksichtigen. Eine soziologische Beschreibung, die sich nur auf soziale Systeme konzentriert, würde nur ein halbes Bild zeichnen. Systemtheorie-intern wird mit diesem Problem das Theoriestück der Interpenetration (vgl. Luhmann 1984, S. 148 – 190) tangiert. Interpenetration beschreibt die wechselseitige Bereitstellung von systemeigener Komplexität, um die relevante Umwelt systemintern konstruieren zu können. Peter Fuchs – ein Schüler von Niklas Luhmann – hat das Thema Interpenetration unter dem Stichwort konditionierte Koproduktion (vgl. Fuchs 2002) behandelt und inzwischen Luhmanns Systemtheorie zu einer Allgemeinen Theorie der Sinnsysteme weiterentwickelt. Aufgrund der Überlegung, dass sowohl soziale als auch psychische Systeme im Medium Sinn operieren, sieht er eine Möglichkeit über die Grenze von sozialen Systemen hinaus zu gehen, um die konditionierte Koproduktion zwischen sozialen und psychischen Systemen zu beschreiben. Obwohl diesem Lösungsweg auch hier im Prinzip gefolgt wird, blieb das Unbehagen weiter bestehen.

Dieses Unbehagen bezieht sich auf die meisten Versuche Luhmanns soziologische Systemtheorie weiterzuentwickeln. Analysen der neueren Systemtheorien bleiben heute zumeist in der Beschreibung von Oberflächenphänomenen stecken. Das liegt daran, dass sich die Annahme der operativen Geschlossenheit sozialer und psychischer Systeme als eine große Herausforderung entpuppt hat, die bis heute noch nicht adäquat gemeistert wurde. Dafür lassen sich drei Anzeichen finden:

Zum Ersten hat sich die systemtheoretische Beobachtung zumeist auf die Analyse der Sachdimension konzentriert, ohne sich für die jeweiligen Perspektiven der Beteiligten zu interessieren. Es wurde, mit anderen Worten, die Sozialdimension vergessen, die sich auf das Erleben der Kommunikationspartner bezieht. Daraus entwickelte sich das Missverständnis, dass eine Versachlichung zu einer konfliktfreien Kommunikation führen könnte. Aufgrund dessen wird in radikalen Ausprägungen der Systemtheorie die Beobachtung von Menschen und ihren Motiven geradezu tabuisiert. Es reicht auch nicht aus die verschiedenen Möglichkeiten der Beobachtung als kontingent abzuqualifizieren. Das wäre selbst nur eine Lösungsstrategie, um mit Kontingenz als Problem umzugehen, die das individuelle Erleben der Menschen missachtet. Diese Hoffnung auf eine Versachlichung wird jedoch bis heute enttäuscht. Stattdessen zeigt sich immer wieder, dass es das unterschiedliche bzw. kontingente Erleben und Beobachten von Sachverhalten ist, welches Konflikte auslöst. 

Zum Zweiten wurde im Anschluss an die Annahme der operativen Geschlossenheit sozialer Systeme Luhmanns Systemtheorie häufig radikal konstruktivistisch ausgelegt. Dies zeigte sich am deutlichsten an der Diskussion von Luhmanns Aussage „es gibt Systeme“ (1984, S. 16). Dass diese Aussage auch seitens der Wissenschaft häufiger mit dem solipsistischen Einwand kritisiert wurde, dass man das ja gar nicht wissen könne, ist schon etwas absurd. Stellt man die Wirklichkeit der zu erforschenden Gegenstände in Zweifel, dann erforscht man nicht die Wirklichkeit, sondern nur noch das, was man dafür hält. Dann bleibt nichts anderes mehr übrig als sich mit sich selbst zu beschäftigen. Allerdings kann man dann nur noch schwerlich einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben, denn ohne die Annahme, dass es beobachtbare Systeme in einer gemeinsam geteilten Umwelt gibt, kann man nicht ernstlich den Anspruch erheben diese erforschen zu wollen. Man muss die zu erforschenden Gegenstände nicht Systeme nennen. Es reicht die Annahme von Untersuchungsgegenständen, die unabhängig von der Frage, wie man sie beobachtet, existieren. 

Zum Dritten konzentrieren sich systemtheoretische Analysen heute zumeist auf die Rekonstruktion von sozialen Problemen, ohne sich dafür zu interessieren, ob und wie diese Probleme durch die Betroffenen gelöst werden. Diese Probleme werden lediglich als Paradoxien rekonstruiert. Paradoxien blockieren jedoch die Beobachtung, d. h. es ist kein Unterscheiden und Bezeichnen möglich. Damit handelt es sich um ein erkenntnistheoretisches Problem. Statt die selbsterzeugten Probleme zu lösen, berauscht man sich an der Betrachtung der Paradoxie. Luhmann nannte das Sthenographie (vgl. Luhmann 1991, S. 58). Das erlaubt jedoch nur einen Blick in die Unendlichkeit bzw. auf die selbsterzeugte Unbestimmtheit. Was das allerdings bei einem soziologisch interessierten Publikum auslöst, hat sich bisher niemand gefragt. Das ist allerdings ein Merkmal, dass nicht nur neuere Systemtheorien kennzeichnet, sondern auch viele andere soziologische, kulturwissenschaftliche und philosophische Ansätze - vor allem solche, die sich als „kritisch“ bezeichnen. Problembewusstsein allein reicht jedoch nicht aus. Wenn man keine Lösungen anbieten kann, dann spielt man lediglich mit den Ängsten der Menschen.

Alle drei Anzeichen hängen miteinander zusammen. Ihre Beschreibung kann an dieser Stelle notgedrungen nur idealisiert erfolgen. Die Einzelprobleme treten fallweise in unterschiedlicher Ausprägung auf. Im Ergebnis hat sich bei der Luhmann-Rezeption aber trotzdem die Ansicht durchgesetzt, man könnte für die Analyse sozialer Prozesse das Erleben der beteiligten Menschen als Einflussfaktoren mehr oder weniger vernachlässigen. Die auf diese Weise entstandenen Gesellschaftsbeschreibungen haben jedoch gravierende Konsequenzen für das Verhältnis zwischen Mensch und Gesellschaft. Es entsteht der Eindruck, dass Menschen in neueren Systemtheorien lediglich als Marionetten sozialer Systeme aufgefasst werden, die jedoch keine Möglichkeiten haben durch ihr Handeln gesellschaftliche Strukturen verändern zu können [2]. Das ist empirisch schlicht falsch und somit auch methodisch unbefriedigend. Darüber hinaus haben solche die Menschen vernachlässigenden Gesellschaftsbeschreibungen fatale Folgen auf die Erlebnisverarbeitung in der zwischenmenschlichen Begegnung – speziell im Erkennen von Handlungsmöglichkeiten [3]. Mit solch einer die Menschen verachtenden Theorie profiliert man sich höchstens als Ideengeber für kalte Sozialtechnologen.

Die vergessene Sozialdimension, die Fixierung auf Paradoxien und der metaphysische Solipsismus sind jedoch nur Symptome eines viel tieferliegenden Problems, nämlich das Fehlen einer emotionssoziologischen Perspektive in Luhmanns Systemtheorie. Das menschliche Erleben ist nicht nur auf das Prozessieren von Gedanken und Wahrnehmungen beschränkt, sondern schließt auch Gefühle mit ein. Und Gefühle können die Art und Weise, wie Menschen sich an Kommunikation beteiligen, maßgeblich beeinflussen, weil sie das Erleben beeinflussen. Das ist eine der Hauptbotschaften von Randall Collins‘ Analysen von Interaktionsritualen (vgl. 2005) [4]. Es gibt unzählige empirische Beispiele für die Bedeutung der Gefühle für Kommunikationsprozesse, so dass diese auch durch eine soziologische Systemtheorie nicht ignoriert werden können. Bisherige Versuche sich diesem Thema zu öffnen, blieben erfolglos [5]. Der Zugang wurde über die systemtheoretische Beobachtungstheorie gewählt, welche lediglich danach fragt, wie Gefühle beobachtet werden. Zwar sieht man dann noch die Funktion von Gefühlen als Reflexionssperre, um mit gesellschaftlich erzeugter Kontingenz umzugehen (Fuchs 2004, S. 106f.). Spannend wird es aber erst bei der Frage, wie diese Formen der psychischen Komplexitätsreduktion bzw. Unsicherheitsabsorption Kommunikation beeinflussen – besonders dann, wenn diese selbst wiederum ein Ergebnis von Sozialisationsprozessen sind. Es reicht also nicht aus, zu beobachten, wie Gefühle beobachtet werden, sondern man muss selbst ein Beobachtungsangebot machen, wie das rekursive Rückkopplungsverhältnis zwischen Kommunikation und menschlichem Erleben beschrieben werden kann.

Luhmanns soziologische Systemtheorie steht auf drei Füßen, die sich den drei Sinndimensionen zuordnen lassen (vgl. Luhmann 2005, S. 213). So deckt die Theorie der Systemdifferenzierung die Sachdimension ab, die Evolutionstheorie dient der Beschreibung der Zeitdimension und die Theorie der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien zielt auf die Sozialdimension. Aufgrund der Vernachlässigung der Funktion von Gefühlen für das Erleben der Kommunikationspartner muss festgestellt werden, dass der Anspruch durch die Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien auch den sozialen Aspekt abzudecken nur zum Teil eingelöst wurde. Durch die Integration von George Spencer-Browns Formenkalkül (vgl. 1997) in seine Systemtheorie gelang Luhmann sicherlich eine Innovation bei der Semantikanalyse und der Bestimmung der kreativen Funktion von Paradoxien. Da er jedoch die Funktion der Gefühle für die Unsicherheitsabsorption psychischer Systeme unberücksichtigt ließ, muss seine Systemtheorie notgedrungen unvollständig bleiben. 

Ein Ziel, das mit diesem Blog verfolgt wird, ist es dieses Defizit zu beheben. Die vorangegangenen Texte über das sogenannte Trollen und über Amokläufer haben versucht anzudeuten, wie dieses Defizit behoben werden kann. Dabei sollte deutlich geworden sein, dass sich Luhmanns Systemtheorie nicht nur für begriffliche Glasperlenspiele eignet, sondern mit den notwendigen Modifikationen durchaus einen Beitrag zum Verständnis aktueller sozialer Probleme liefern kann. Damit wird es möglich die geschlossene Wolkendecke Richtung Erde zu durchbrechen, um erste Aufklärungsflüge zu wagen. Die kommenden Beiträge werden sich mit Konsequenzen auseinandersetzen, die die hier vorgeschlagenen Modifikationen auf einzelne Teile von Luhmanns soziologischer Systemtheorie haben.





[1] Mit Luhmanns Problemkonstruktion des Sozialen wird auch verständlich, was Garbiel Tarde mit Interpsychologie meinte. Dieser paradoxe Begriff - genauso wie Intersubjektivität – bezieht sich auf die Problemstellung der Handlungskoordination bei divergentem Erleben. Gesellschaft ist dann aber nicht bloße Nachahmung sondern Kommunikation und die Nachahmungsstrahlen könnte man zunächst als Interaktionsritualketten und im hier vorgeschlagenen Ansatz als Kommunikationssequenzketten beschreiben. Nachahmung ist dann lediglich eine Lösung des sozialen Problems, aber nicht die einzige.
In diesem Sinne ist Tarde ein Funktionalist. Es ist bemerkenswert, dass er einen ausgeprägten Sinn für funktionale Äquivalente besitzt. Nachahmung löst aber immer nur dasselbe Problem auf verschiedene Weise. Für seine Zwecke reicht es zu sehen, dass es geschieht, denn es geht Tarde um den Entwurf einer Evolutionstheorie der Gesellschaft und die Beschreibung der Variations-, Selektions- und Restabilisierungsmechanismen – Tarde spricht von drei Phasen (vgl. 2009, S. 323). Für eine funktionale Analyse der sozialen Problemstellung ist der Nachahmungsbegriff jedoch zu unterkomplex, da er nicht in den Blick bekommt, wie das soziale Problem gelöst wird und dass die soziale Problemstellung selbst ausdifferenziert wird im Sinne der Systembildung in Systemen. In anderen Worten, mit den Gesetzen der Nachahmung lässt sich nicht die funktionale Differenzierung der Gesellschaft beschreiben. Nichts desto trotz sollte man die Gesetze der Nachahmung nicht vorschnell beiseiteschieben, denn sie enthalten einen Begriffsapparat zur Analyse evolutionärer Erfolge von Kommunikationsangeboten.
[2] Wobei lediglich Strukturen auf den Ebenen der Systembildung Interaktion und Organisation veränderbar sind, nicht jedoch die Funktionsbedingungen von Kommunikation selbst.
[3] Dieses Problem wird in einem der kommenden Beiträgen ausführlicher behandelt.
[4] Randall Collins ist natürlich nicht der einzige Soziologe, der die Bedeutung von Gefühlen für die Soziologie erkannt hat. Aktuell ist hier auch Eva Illouz hervorzuheben (vgl. 2006; 2009). Gleichwohl war das Thema seit der Entstehung der Soziologie präsent. Bereits Gabriel Tarde berücksichtige Gefühle in seinen Gesetzen der Nachahmung unter den außerlogischen Einflüssen (vgl. 2009, S. 214ff.) und Durkheim wurde in seiner Religionsstudie auf sie aufmerksam (vgl. 1981).
[5] Siehe als Beispiel für das ratlose Schulterzucken von Systemtheoretikern gegenüber Gefühlen Fuchs (2004). 


Literatur 
Collins, Randall (2005): Interaction Ritual Chains. Princeton
Durkheim, Emile (1981): Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt am Main
Fuchs, Peter (2002): Die konditionierte Koproduktion von Kommunikation und Bewußtsein. In: Arbeitsgruppe »menschen formen« (Hrsg.): Ver-Schiede der Kultur. Aufsätze zur Kippe kulturanthropologischen Nachdenkens. Marburg. S. 150 - 175
Fuchs, Peter (2004): Wer hat wozu und wieso überhaupt Gefühle? In: Soziale Systeme 10, S. 89 – 110
Illouz, Eva (2006): Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Frankfurt am Main
Illouz, Eva (2009): Die Errettung der modernen Seele. Frankfurt am Main 
Latour, Bruno (2001): Gabriel Tarde und das Ende des Sozialen  
Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main
Luhmann, Niklas (1991): Sthenographie und Euryalistik. In: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig (Hrsg.): Paradoxien, Dissonanzen und Sinnzusammenbrüche. Frankfurt am Main. S. 58 - 82 
Luhmann, Niklas (2005): Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien. In: ders: Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft. Wiesbaden 5. Auflage. S. 212 – 240 
Spencer-Brown, George (1997): Laws Of Form. Gesetze der Form. Lübeck
Tarde, Gabriel (2009): Die Gesetze der Nachahmung. Frankfurt am Main

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