Dienstag, 8. Januar 2013

Vorüberlegungen zu einer systemtheoretischen Image-Theorie am Beispiel des Amokläufers



Der letzte Blog-Beitrag, der sich der Analyse des sogenannten Trollens widmete, wurde am 6. Dezember 2012 veröffentlicht. Acht Tage später bekam eine Passage des Textes „Kontingenz, Kritik und das Internet“ unerwarteterweise eine traurige Aktualität: 

„Es kann zwar vermutet werden, dass es sich bei den meisten Trollen um Personen handelt, die sich aufgrund ihrer strengen moralischen, politischen oder religiösen Ansichten mehr oder weniger selbst isoliert haben. Trotzdem sollte man sich darüber im Klaren sein, was es bedeutet, wenn eine Person mit einer derartig hohen Aufladung an negativen Emotionen wieder in die Lebenswelt anderer Menschen einbricht. Durch das Mobbing via Internet kann man eine vage Ahnung davon bekommen. Das Spektrum reicht wahrscheinlich von Mobbing über Stalking bis tätlichen Angriffen, Terror und im schlimmsten Fall Amokläufen.“ 

Die Rede ist vom Amoklauf des zwanzigjährigen Adam Lanza in der Stadt Newton im US-Bundesstaat Connecticut am 14. Dezember 2012. Über die Motive von Adam Lanza rätselt man bis heute.

Die im Troll-Text implizit enthaltene These lautete, dass es sich bei Amokläufen ebenso wie beim Trollen um eine Folgeerscheinung von sozialen Exklusionsprozessen handelt. Ausgehend von einer interaktionstheoretischen Perspektive wurde versucht das Muster sozialer Prozesse zu beschreiben, die Menschen dazu treibt Situationen mit face-to-face-Kontakten zu meiden, welche psychologischen Folgen diese sozialen Exklusionsprozesse auf die betroffenen Menschen haben und wie sich diese psychologischen Folgen wieder in Kommunikationsprozessen bemerkbar machen. Amokläufe sind die extremste Form in der sich soziale Entfremdung ausdrückt. Um solche tragischen Ereignisse künftig verhindern zu können, gilt es die Ursachen dafür zu identifizieren. Erklärungsangebote gibt es einige. So wurden wenig überraschend wieder die Ego-Shooter für solche Taten verantwortlich gemacht. Ebenso erwartbar wurde auch die laxe Waffengesetzgebung der USA genannt. Aber es gab auch einen neuen Erklärungsansatz der in der fehlenden Krankversicherungspflicht die Ursache für Amokläufe sieht, weil auf diese Weise vielen US-amerikanischen Staatsbürgern die Möglichkeit genommen wird benötigte psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen.


Im Folgenden soll eine soziologische Deutung von Amokläufen vorgenommen werden. Den theoretischen Ausgangspunkt dafür bildet eine Kombination aus der soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns, der Interaktionstheorie Erving Goffmans und die an Goffman anschließende Emotionssoziologie von Randall Collins. Die besondere Schwierigkeit bei einer Analyse von Amokläufen besteht in den spärlichen Informationen über Amokläufer. Man kann immer nur im Nachhinein darüber spekulieren, wie es zu diesem Ereignis kam. Schon die Motive des Täters bleiben im Dunkeln, da dieser sich in den meisten Fällen am Ende der Tat selbst richtet. Auch die folgenden Überlegungen müssen daher hoch spekulativ bleiben. Trotzdem lohnt es sich das Phänomen der Amokläufe vor dem Hintergrund der modernen Gesellschaft zu interpretieren. Auf diese Weise lassen sich Amokläufe durch die gesellschaftsstrukturellen Bedingungen der Moderne verstehen. Dafür ist es zunächst notwendig die relevanten Aspekte der modernen Gesellschaft darzustellen (I.). Es wird sich zeigen, dass Niklas Luhmanns Theorie der Form „Person“  einige weitreichende Implikationen auf seine Theorie der funktional differenzierten Gesellschaft haben, die noch nicht hinreichend ausgearbeitet sind. Um dieses Defizit auszugleichen wird hier versucht die Theorie der Form „Person“ an Erving Goffmans Image-Begriff anschlussfähig zu machen und mit Randall Collins Emotionssoziologie in Beziehung zu setzen (II.). Damit ist die Hoffnung verbunden Inklusions-/Exklusionsprozesse besser beschreiben zu können. Auf der erarbeiteten theoretischen Grundlage wird schließlich eine Deutung von Amokläufen im Kontext der modernen Gesellschaft erfolgen (III. - V.).


I.

Im Anschluss an Niklas Luhmanns soziologische Systemtheorie liegt den folgenden Überlegungen die Annahme zu Grunde, dass die moderne Gesellschaft funktional differenziert ist (vgl. 1997). Der Begriff Gesellschaft bezeichnet die Gesamtheit der stattfindenden Kommunikation. Kommunikation ist alles das was zwischen Menschen stattfindet. Beschreibt man Gesellschaft als ein System, dann gibt es in der Umwelt kein vergleichbares System. Oder einfacher ausgedrückt, es gibt keine Kommunikation außerhalb der Gesellschaft. Als Ereignis ist Kommunikation durch eine dreifache Selektion gekennzeichnet: die Selektion des Informationsträgers – der Mitteilung -, die Wahl der Informationen selbst aus einem Horizont von Möglichkeiten und - sofern die Differenz zwischen Mitteilung und Information verstanden wurde und dem anschließenden Kommunikationsereignis zugrunde gelegt wird – das Verstehen (vgl. Luhmann 1984, 194ff.). Jedes Kommunikationsereignis ist eine Synthese dieser drei Selektionen. Versteht man unter Gesellschaft alle stattfindenen Kommunikationsereignisse wird Gesellschaft damit zu einem prozesshaften Geschehen. Wenn jedoch an ein vorangegangenes Ereignis nicht angeschlossen wird, kann man auch nicht von Kommunikation sprechen.

Im Laufe der gesellschaftlichen Evolution haben sich verschiedene Semantiken gebildet, welche die Spielräume möglicher kommunikativer Anschlüsse einschränken. Das heißt, dass sich die gesellschaftliche Komplexität im Laufe der Zeit immer weiter erhöht hat und in der Form funktionaler Differenzierung gegenwärtig den bisher höchsten bekannten Grad gesellschaftlicher Komplexität angenommen hat. Differenzierung meint in diesem Zusammenhang, dass das umfassende System Gesellschaft intern Subsysteme gebildet hat. Von funktionaler Differenzierung wird gesprochen, weil sich die Bildung dieser Subsysteme jeweils an einem bestimmten sozialen Problem auskatalysiert hat mit dem potentiell jeder Mensch konfrontiert werden könnte. Bei diesen Subsystemen handelt es sich um die Wirtschaft, die Politik, das Recht, die Wissenschaft, Kunst, Liebe, Erziehung und die Massenmedien. Jedes einzelne dieser Funktionssysteme hat sich jeweils der kontinuierlichen Lösung eines dieser Probleme gewidmet. Keines dieser Bezugsprobleme kann jemals endgültig gelöst werden. Und keines dieser Funktionssysteme kann eines der anderen gesellschaftlichen Bezugsprobleme lösen. 

Jedes dieser Funktionssysteme ist operativ geschlossen und operiert autonom. Das heißt, soziale Systeme reproduzieren ihre Systemelemente – man muss genauer sagen Ereignisse – aus ihren Systemelementen. Das ist lediglich eine andere Form auszudrücken, dass Kommunikationsereignisse an Kommunikationsereignisse anschließen. Unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Rahmenbedingung funktionaler Differenzierung muss man genauer sagen wirtschaftliche Kommunikationsereignisse in Form von Zahlungen schließen nur an wirtschaftliche Kommunikationsereignisse an, politische Kommunikationsereignisse in Form von kollektiv bindenden Entscheidungen schließen nur an politische Kommunikationsereignisse an usw.. Nichts desto trotz sind die einzelnen Funktionssysteme informationell offen. D. h. trotz ihrer geschlossenen Operationsweise können sie bei der Beobachtung ihrer Umwelt irritiert werden und systemintern Informationen über die Umwelt gewinnen. Aufgrund der Nicht-Substituierbarkeit eines Funktionssystems durch ein anderes Funktionssystem hat sich eine heterarchische Ordnung der Gesellschaft gebildet (vgl. Luhmann 1997, S. 312f.). Alle Funktionssysteme operieren gleichberechtigt nebeneinander mit ihrer jeweils eigenen Systemperspektive. Sie generieren deswegen auch unterschiedliche Beschreibungen ihrer Umwelt. Heterarchie impliziert demnach auch, dass nicht mehr die einzig richtige Beschreibung eines kommunikativen Ereignisses möglich ist. Vielmehr kann jedes Ereignis unter wirtschaftlichen, rechtlichen, politischen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Perspektive beobachtet werden. Diese Multiperspektivität wird auch Polykontexturalität genannt (vgl. Luhmann 1997, S. 87f.). Heterarchie und Polykontexturalität sind kennzeichnende Merkmale der modernen Gesellschaft und zugleich die Bedingungen unter denen alle sozialen Systeme heute operieren müssen.

Auch die Menschen müssen ihr Kommunikationsverhalten an diese Bedingungen anpassen. Das bedeutet, dass es heute praktisch unmöglich geworden ist in einer sozialen Situation als ganzer Mensch oder als ganze Person Anerkennung zu finden. Menschen werden vielmehr unter jeweils systemrelevanten Attributen der Form „Person“ für einzelne soziale Systeme anschlussfähig. Person als Form bezeichnet in diesem Zusammenhang ein Beobachtungsschema für die soziale Konstruktion eines Menschen unter jeweils systemrelevanten Gesichtspunkten. So werden für wirtschaftliche, rechtliche oder erziehende Anschlussfähigkeit jeweils verschiedene Aspekte einer Person relevant. Die Leistung der Form „Person“ für soziale Systeme liegt in der Einschränkung von Verhaltensmöglichkeiten und sichert dadurch Erwartbarkeit für andere Kommunikationspartner (vgl. Luhmann 2005a, S. 142). Die kommunikative Relevanz von Menschen hängt demnach von der Beschaffenheit der Form „Person“ ab. Sobald kommuniziert wird, läuft die soziale Konstruktion von Menschen als Personen gleichsam automatisch. Teilnahmefähigkeit an Kommunikation wird dann zu dem Gesichtspunkt unter dem Menschen kommunikative Relevanz gewinnen. Wer an Kommunikation teilnimmt, kann es nicht vermeiden, dass er als Person beobachtet wird, denn eine mitgeteilte Information muss einem Mitteilenden zugerechnet werden. Wenn unter Kommunikation ein Ereignis verstanden wird, dass die drei Selektionen Mitteilung, Information und Verstehen vereint, dann verweist die Mitteilung nicht nur auf den Informationsträger sondern auch auf die Person, die diesen Informationsträger und keinen anderen gewählt hat. Hinter der Unterscheidung der Mitteilung verbirgt sich damit die Frage danach, wie Menschen an Kommunikation teilnehmen?

Bis hier hin wurden lediglich in aller Knappheit die bekannten Thesen von Niklas Luhmann über die moderne Gesellschaft vorgestellt. Die letzten Ausführungen sollten deutlich gemacht haben, dass die Form Person eine grundlegende soziale Funktion für die Teilnahmefähigkeit von Menschen an Kommunikation erfüllt. Luhmann war der Meinung, dass das Schema Inklusion/Exklusion (vgl. Luhmann, 1997, S. 618 – 633; Luhmann 2005b) ausreichen würde um die Eröffnung und Verhinderung von Teilnahmemöglichkeiten von Menschen an Kommunikation zu analysieren. Man müsse lediglich beobachten welche Attribute einer Person für soziale Systeme eine Relevanz besitzen und damit anschlussfähig werden. Zudem ging Luhmann davon aus, dass die unterschiedlichen Inklusionsmodi der einzelnen Funktionssysteme verhindern, dass das Schema Inklusion/Exklusion zu einer Art Supercode wird, der sich in jede Kommunikationssequenz einschreibt. Die Präferenzcodes der einzelnen Funktionssysteme brechen gleichsam das Schema Inklusion/Exklusion und stellen personale Anschlussfähigkeit jeweils nach eigenen Regeln her.

Nichts desto trotz gibt es aber immer noch genügend Kommunikationsgelegenheiten die nicht im Kontext eines bestimmten Funktionssystems stattfinden. Konzentriert man die Beobachtung auf die an Kommunikation teilnehmenden Menschen und darauf wie die jeweilige Person konstruiert wird, muss man feststellen, dass sich die Form „Person“ unabhängig von einer bestimmten Konstellation von Alter (Beobachteter) und Ego (Beobachter) und unabhängig davon ob die beiden erleben oder handeln konstituiert. Die Funktion der Form „Person“ die Teilnahme an Kommunikation zu ermöglichen, kommt damit in jeder Situation zum Tragen egal ob ein Bezug zu einem bestimmten Funktionssystem besteht oder nicht. Aus dieser Überlegung wird hier die Konsequenz gezogen, dass es neben den bekannten Bezugsproblemen der einzelnen Funktionssysteme der Gesellschaft mindestens noch ein weiteres gesellschaftsweit anfallendes Bezugsproblem gibt, nämlich die Anschlussfähigkeit der Person. Das Umweltproblem der Teilnahme von Menschen an Kommunikation transformiert sich für soziale Systeme in die Problemstellung der Anschlussfähigkeit der Person. Damit soll allerdings nicht behauptet werden, dass Inklusion/Exklusion doch als eine Art Supercode fungiert. Es wird vielmehr nur das gesellschaftsweit anfallende Bezugsproblem ausformuliert, für das Luhmann bereits eine Lösung beschrieben hat – nämlich „ein Verbindungsmedium zwischen den voll funktionsfähigen Kommunikationsmedien und der Gesellschaft im übrigen" (Luhmann 1997, S. 409). Luhmann beschrieb das Wertmedium als dieses Verbindungsmedium, betonte aber dass es sich bei Werten nicht um ein voll funktionsfähiges Kommunikationsmedium handelt (vgl. Luhmann 1997, S. 408f.). Die daran anschließende Hypothese lautet, dass es sich bei der Form „Person“ ebenso um ein solches Verbindungsmedium handelt.

An dieser Stelle kommt es jedoch nicht auf das Moment der Verbindung an. Der Verweis soll lediglich deutlich machen an welcher Stelle in Luhmanns Theorie der Gesellschaft die hier angestellten Überlegungen ansetzen. Für das Folgende ist es wichtig festzuhalten, dass das Problem der Anschlussfähigkeit der Person in jeder Kommunikationssituation anfällt und gelöst werden muss unabhängig davon ob es sich um Kommunikationssituationen handelt, die eine Referenz auf eines der Funktionssysteme haben oder nicht. Hinsichtlich der Inklusion in die einzelnen Funktionssysteme ergibt sich daraus eine wichtige Konsequenz. Kommt es in einer konkreten Situation zur Frage nach der Inklusion in ein Funktionssystem müssen mit dem Ereignis der Inklusion immer zwei Probleme zugleich gelöst werden: das Problem die soziale Adresse anschlussfähig zu halten und das jeweilige Bezugsproblem des Funktionssystems. Dabei handelt es sich nicht nur um ein theorieinternes Problem. So muss die Inklusion in eine funktionssystem-spezifische Kommunikationssequenz nicht bedeuten, dass es nicht doch zu einer Beschädigung der sozialen Adresse gekommen ist. Ein Beispiel dafür wären Personen, die den Ruf haben für Geld alles zu tun. Die Bemühungen durch die Legalisierung von Prostitution diese Profession von ihrem Negativ-Image zu befreien und zu einem achtbaren Berufsstand zu machen, setzen genau an diesem Problem an. Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass bei einer Exklusion aus einer funktionssystem-spezifischen Kommunikationssequenz nicht automatisch die Form „Person“ als soziale Adresse beschädigt wird. Wenn man einen Gerichtsprozess verliert, bei einer Auktion unterlegen ist oder nicht für eine freie Arbeitsstelle eingestellt wird, bedeutet das in keinen dieser Fälle einen Gesichtsverlust oder dass dieses Ereignis als persönliche Kränkung zu verstehen ist. Jeder Kommunikationssequenz ist damit ein potentieller Konflikt eingeschrieben in Anhängigkeit davon ob man die Inklusion unter funktionssystemspezifischen Gesichtspunkten betrachtet oder unter dem Gesichtspunkt dessen was Erving Goffman als Imagepflege bezeichnet [1]. Obwohl weiterhin im Rahmen von Luhmanns Theorieanlage argumentiert wird, geht diese Annahme über Luhmanns Theorie der Form „Person“ weit hinaus. Die Tragweite dieser Theorieentscheidung hat Auswirkungen auf Luhmanns gesamte Gesellschaftstheorie, stellt sie aber nicht in Frage. Sie betont vielmehr die Notwendigkeit, die Theorie der Form „Person“ weiter auszuarbeiten. An dieser Stelle kann diese Theorie jedoch noch nicht vollständig dargestellt werden. Hier wird das Phänomen der Amokläufe dazu genutzt um einige zentrale Annahmen vorzustellen. Deswegen wird im Folgenden nur das Problem personaler Anschlussfähigkeit weiterverfolgt. Die Beziehung zu den Inklusionsmodi der Funktionssysteme kann an dieser Stelle nicht nachgegangen werden.


II. 

Wie bereits in den vorangegangenen Texten dieses Blogs liegt auch diesem die Überzeugung zugrunde, dass Erving Goffmans Image-Begriff dazu geeignet ist die Theorie der Form ‚Person‘ zu ergänzen. Wenn sich in jeder sozialen Situation das Problem der Anschlussfähigkeit der Person stellt und im Kontext eines bestimmten Funktionssystems zusätzlich noch das Bezugsproblem des jeweiligen Funktionssystems reicht es nicht aus sich nur auf die Inklusionsmodi der Funktionssysteme zu konzentrieren. Und auch für die Analyse von Kommunikationssequenzen ohne Referenz auf ein bestimmtes Funktionssystem reicht die Form „Person“ nicht aus, weil sie die Bedeutung der Form „Person“ für die beobachteten Menschen unberücksichtigt lässt. Genau dieser Aspekt spielt jedoch für die Analyse von Inklusions-/Exklusions-Prozesse eine nicht zu unterschätzende Rolle. Gerade zu diesem Aspekt kann Goffmans Image-Begriff mehr beitragen als Luhmanns Form „Person“. Es lohnt sich deswegen zu testen, wie weit sich der Image-Begriff in Luhmanns Systemtheorie integrieren lässt [2]. Der Ausgangspunkt dafür ist eine wichtige Gemeinsamkeit beider Konzepte. Ebenso wie Goffman die Funktion des Images für die Teilnahme an Interaktionen betont (vgl. 1986a, S. 11), so betont Peter Fuchs im Anschluss an Luhmann die Notwendigkeit einer sozialen Adresse für die Teilnahme an Kommunikation (vgl. 1997). Dies ist eine wichtige und grundlegende Überschneidung beider Ansätze.

Goffman definiert das Image „als der positive soziale Wert […], den man für sich durch die Verhaltensstrategie erwirbt, von der die anderen annehmen, man verfolge sie in einer bestimmten Interaktion“ (1986a, S. 10). Das zentrale Moment liegt in der Formulierung "positiver sozialer Wert“, denn sie stellt direkt auf die kommunikative Anschlussfähigkeit des Image ab. Goffman nimmt genauso wie die Interaktionsteilnehmer an, dass Menschen etwas daran gelegen ist ein positives Bild von sich zu erzeugen um weiter an Kommunikation teilnehmen zu können. Aus systemtheoretischer Perspektive kann man diese Erwartung als direkte Reaktion auf das Problem personaler Anschlussfähigkeit betrachten. Deswegen wird diese Annahme hier übernommen. Umso mehr fallen dann Verhaltensstrategien auf, die anscheinend nicht darauf aus sind mit dem Image einen positiven sozialen Wert zu erwerben. Unter diesem Aspekt wurde bereits im vorangegangenen Blog-Beitrag das Trollen analysiert. Dabei handelt es sich um eine Form via Internet zu kommunizieren – zumeist durch Beleidigungen. An dieser Verhaltensstrategie fällt auf, das ohne Rücksicht auf das eigene Image kommuniziert wird oder – weil man um die negativen Konsequenzen einer solchen Kommunikationsweise weiß – nur anonym trollt. Trollen beschädigt das Image des Kommunikationspartners und auf diese Weise auch das Image des Trolls. Es ist davon aus zu gehen, dass die wenigsten Trolle, das was sie einer Person via Internet mitteilen dieser Person auch direkt ins Gesicht sagen würden. Um sich vor dieser Imagebeschädigung zu schützen, die ihr eigenes Verhalten auslöst, kommunizieren die meisten Trolle via Internet nicht unter ihrem Klarnamen. Unter demselben Aspekt fällt auf, dass auch Amokläufe keine Verhaltensstrategien sind mit der man einen positiven sozialen Wert aufbaut. Am Ende steht nicht nur der soziale Tod sondern auch der leibliche Tod. Dass sich ein Amokläufer nach seiner Tat selbst richtet, ist eine direkte Reaktion auf seine zuvor begangene Bluttat. Diese hat das Image des Täters soweit ruiniert, dass es ihm unmöglich ist mit diesem Stigma weiter zu leben. Da sich in den meisten Fällen nach der Tat herausstellt, dass sie von langer Hand geplant war, ist der finale Selbstmord keine Handlung im Affekt. Der eigene Tod war von Anfang an Teil des Plans. Die Frage, die sich daraus ergibt, lautet: was treibt einen Menschen zu diesem Schritt? Oben wurden Amokläufe bereits als Exklusionsphänomen bezeichnet. Im ersten Schritt dies darzustellen, lässt sich nun die Hypothese formulieren, dass es sich bei Amokläufen um eine Form handelt mit dem Problem der Anschlussfähigkeit der Person umzugehen

Die Hoffnung ist, dass sich durch eine stärkere Integration von Goffmans Image-Begriff in die soziologische Systemtheorie zumindest formal der Prozess beschreiben lässt, der Menschen zu solch einer Tat befähigt. Bisher wurde Luhmanns Beschreibung der Form „Person“ und Goffmans Image-Begriff synonym verwendet – ohne jedoch aus dem Auge zu verlieren, dass es auch gravierende Unterschiede zwischen beiden gibt. Nun wird es Zeit diesen Unterschieden mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Der Ausgangspunkt dafür ist die zentrale Gemeinsamkeit zwischen der Form ‚Person‘ und dem Image-Begriff. Diese ist jedoch nicht, wie bisher angenommen, die soziale Konstruktion der an Kommunikation teilnehmenden Menschen. Luhmann geht davon aus, dass psychische und soziale Systeme über die Form „Person“ strukturell gekoppelt sind (vgl. Luhmann 2005a, S. 145f.). Strukturelle Kopplung bezeichnet ein Verhältnis wechselseitiger Irritation und Interpenetration zwischen zwei operativ geschlossenen und autonom operierenden Systemen, die aber trotz der operativen Geschlossenheit auf einander angewiesen sind. So sind soziale Systeme auf die Beteiligung psychischer Systeme in ihrer Umwelt angewiesen. Oder einfacher formuliert, ohne Menschen gibt es keine Kommunikation. Genau das macht Kommunikation erst zu einer sozialen Operation, denn für die Bildung eines sozialen Systems sind mindestens zwei Menschen notwendig (vgl. Luhmann 1997, S. 81ff.).

Bereits im Troll-Text wurde auf das Verhältnis struktureller Kopplung zwischen psychischen und sozialen Systemen mit dem Image-Begriff abgestellt, wenn davon ausgegangen wurde, dass in der modernen Gesellschaft nur über das eigene Image Interpenetration für die beteiligten psychischen Systeme möglich wird. Interpenetration bedeutet, dass die an Kommunikation beteiligten Menschen wechselseitig psychische Eigenkomplexität bereitstellen müssen um ihre relevante Umwelt in Form der beteiligten Kommunikationspartner systemintern konstruieren zu können. Dafür wird in hohem Maße die Imaginationsfähigkeit psychischer Systeme in Anspruch genommen. Das Image wird damit zu einer Art Schnittstelle zwischen psychischen und sozialen Systemen ohne dass es jedoch zu einer realen Überschneidung sozialer und psychischer Operationen kommt. Vielmehr werden psychische Systeme durch das Image für ihre soziale Umwelt irritierbar, denn es ermöglicht einen Abgleich zwischen eigenen und sozialen Erwartungen, was schließlich auch zu Lernprozessen führen kann. Und umgekehrt werden soziale Systeme über das Image für psychische Systeme auf die gleiche Art irritierbar.

Aufgrund der gesellschaftsstrukturellen Bedingung funktionaler Differenzierung wurde davon ausgegangen, dass nur noch über das Image eine psychische Orientierung für die Teilnahme an Kommunikation möglich ist. Mit dem Übergang zur funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft verloren die traditionellen Deutungs- und Verhaltensformen ihre Funktion. Während die vormoderne Gesellschaft eine quasi externe Bestimmung der sozialen Position von Menschen vornahm z. B. über biologische Abstammung, geographische oder standesgemäße Herkunft, spielen solche Formen personaler Identitätsbestimmung für die Inklusionsmodi der verschiedenen Funktionssysteme der modernen Gesellschaft keine Rolle mehr. Die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien Geld, Macht, Recht, Liebe, Wahrheit oder Schönheit interessieren sich nicht für a priori zugeschriebene, gleichsam naturgegebene Merkmale weil sie für die Erfüllung einer bestimmten Aufgabe bzw. sozialen Erwartung keine Rolle spielen [3]. Jeder kann Geld verdienen, jeder kann lieben, jeder kann Kunst machen, jeder kann Wissenschaft betreiben etc. Die geschlossene, autonome Operationsweise sozialer Systeme erlaubt es den einzelnen Funktionssystemen nur nach den eigenen Kriterien ihre Umwelt zu beobachten. Das heißt aber umgekehrt auch, dass soziale Systeme in stärkerem Maße auf die jeweils systemrelevante Leistungsfähigkeit der Menschen setzen müssen. Somit werden die Menschen auf sich selbst zurückgeworfen um soziale Relevanz zu gewinnen. Und genau damit wird personale Anschlussfähigkeit zu einem sozialen Problem von gesellschaftstheoretischer Bedeutung.

Diese Annahme wird auch durch zwei jüngere Studien gestützt. So beschreibt Eva Illouz in „Die Errettung der modernen Seele“ (2009) den Siegeszug der Psychoanalyse in den USA. Der Grund dafür war ein wachsendes Bewusstsein für die durch psychologische Störungen ausgelösten Kommunikationsdefizite zum Beginn der Moderne und ein daran anschließendes Interesse an Hilfsmitteln um diese Defizite zu beheben. Diese Entwicklung beschränkte sich jedoch nicht nur auf die wissenschaftlichen Fachrichtungen Psychologie und Psychiatrie sondern strahlte über die Massenmedien bis weit in die Populärkultur. Damit verbunden war das Aufkommen von Inszenierungsformaten personaler Identität. Illouz interessiert sich für diese vermehrt auftretenden Inszenierungsformate unter dem Gesichtspunkt der Darstellung des Selbst als defizitär und beschreibt dies als therapeutischen Diskurs. Berücksichtigt man, dass es zunächst darum ging das Problembewusstsein für Kommunikationsdefizite an der eigenen Person zu schärfen so benötigt man auch ein entsprechendes Beobachtungs- und Ausdrucksrepertoire, was der therapeutische Diskurs in Form von dramatisierenden Selbstbeschreibungsformaten zur Verfügung stellt um die eigene Person in einer Art Leidensgeschichte als hilfsbedürftig darstellen zu können. Nur auf diese Weise bietet das eigene Image auch Anschlusspunkte für beratende oder therapierende Kommunikation. Mit anderen Worten, damit geholfen werden kann, muss zunächst ein Hilfebedarf vorhanden sein. Der therapeutische Diskurs liefert die Selbstbeschreibungsformate um sich selbst als hilfsbedürftig beschreiben zu können. Wenn Kommunikationsdefizite Hilfsbedürftigkeit anzeigen, dann wird damit Teilnahmefähigkeit von Menschen an Kommunikation problematisiert.

Die menschliche Psyche ist aber bis heute ein äußerst schwieriges Beobachtungsobjekt und es gibt kaum gesichertes Wissen über sie. Was auch die Beobachtung und Behandlung von psychischen Störungen zu einer hoch riskanten Angelegenheit werden lässt. Das zeigt Alain Ehrenberg in seiner Studie „Das erschöpfte Selbst“ (2008), wenn er die soziale Konstruktion des psychologischen Krankheitsbilds Depression beschreibt. Ehrenberg sieht die Ursache des vermehrten Auftretens von Depressionen in der Struktur der modernen Gesellschaft, wenn er darauf aufmerksam macht, dass der Wegfall von traditionellen Deutungs- und Verhaltensmustern die Menschen mit einer ungeheuren Optionssteigerung hinsichtlich der eigenen Lebensführung konfrontiert wurden. Die Notwendigkeit eine Wahl treffen zu müssen überfordert viele Menschen und führt zu einer Art von Erschöpfung, die sich als Depression psychisch wie soziale bemerkbar macht - sozial als Beeinträchtigung der Teilnahmefähigkeit an Kommunikation. Illouz und Ehrenberg sehen im Übergang zur modernen Gesellschaft den Beginn für das vermehrte Auftreten von psychologischen Störungen und in den Strukturen der modernen Gesellschaft die Ursache dafür.

Will man diese Beobachtung systemtheoretisch interpretieren, bedeutet das die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft ist die Ursache für psychologisch bedingte Kommunikationsdefizite. Denn psychologische Störungen können sich für soziale Systeme nur in Form von Kommunikation bemerkbar machen und damit soziale Systeme irritieren. Mit Ehrenberg wird hier die Ansicht geteilt, dass die psychologischen Probleme soziale Ursachen haben und diese Ursachen im Mangel an sozialen Orientierungsmustern zu suchen sind. Berücksichtigt man weiterhin, dass die soziologische Systemtheorie mit dem Begriff Gesellschaft ein Kommunikationssystem bezeichnet, dann wäre Kommunikation die Ursache für psychologische Störungen. Oder in anderen Worten, Gesellschaft gefährdet die Teilnahmefähigkeit von Menschen an Kommunikation bzw. die personale Anschlussfähigkeit. Es gibt allerdings auch genügend Menschen, die keine psychologischen Störungen haben. Desweiteren werden psychische Probleme in der Psychotherapie lediglich mit Kommunikation behandelt. Damit ist Kommunikation nicht nur das Problem sondern kann auch die Lösung sein. Insofern wird Ehrenberg nur zur Hälfte zugestimmt.

Außerdem wird bestritten, dass es unmöglich geworden ist sich in der modernen Gesellschaft soziale Orientierung zu verschaffen. Das Image ermöglicht dadurch, dass es psychische und soziale Systeme miteinander strukturell koppelt, eine soziale Orientierung. Im Gegensatz zu vormodernen Interaktionsformen wird nun in der Begegnung nicht mehr die Gesellschaftsstruktur durch die soziale Position der Interaktionspartner in der Interaktion repräsentiert. Jetzt treffen nur noch hoch individualisierte Personen aufeinander. Diese repräsentieren nur noch sich selbst. Von einer Person kann aber nicht mehr zwingend auf die funktionale Differenzierung der Gesellschaft geschlossen werden. Die Frage ist nun, wie das Image es leistet soziale und psychische Orientierung zu geben? Die Images der an Kommunikation beteiligten Menschen konstituieren eine symbolische Ordnung. Wenn Menschen bestrebt sind sich positiv – also anschlussfähig – darzustellen, dann können sie das nur mit Rücksicht auf die Images der anderen Beteiligten. Um aber Rücksicht auf die anderen Beteiligten nehmen zu können, ist es notwendig eine Vorstellung von sich selbst zu bekommen und wie diese in die jeweils aktuelle symbolische Ordnung passt um geeignete Verhaltensweisen auswählen zu können. Goffman nimmt darüber hinaus an, dass der Träger eines Images eine emotionale Beziehung zu seinem Image aufbaut, je nachdem ob das Image im Verlauf einer Interaktion bestätigt oder verletzt wird (vgl. Goffman 1986a, S. 11). Entsprechend entwickelt der Träger des Image entweder positive oder negative Gefühle für sein Image bzw. für bestimmte Teile davon. Da jeder Anwesende bestrebt ist ein positives Image aufrecht zu erhalten, besteht daher wechselseitig die Erwartung nicht nur für die Wahrung des eigenen Images sondern auch für die Aufrechterhaltung der anderen Images ein spontanes emotionales Engagement aufzubringen, was sich ebenfalls im eigenen Verhalten ausdrücken muss.

Hier wird offensichtlich worin Goffmans Image-Begriff über Luhmanns Form „Person“ hinausgeht und warum weiter oben vom Image als einer Schnittstelle gesprochen wurde. Er beinhaltet Annahmen über die psychologische Bedeutung des Image und beschreibt ein rekursives Verhältnis zwischen sozialen und psychischen Erwartungen, wobei die psychologische Irritierbarkeit nicht nur über Bewusstsein sondern auch über Gefühle hergestellt wird. Systemtheoretisch interpretiert, handelt es sich beim Image damit um die Einheit der Unterscheidung von psychologischer Selbstbeschreibung und sozialer Fremdbeschreibung. Die Unterschiede, die Unterschiede machen, sind damit keine im Medium Sinn sondern im Medium der Gefühle und beziehen sich auf die soziale Fremdbeschreibung, die zu einem gewissen Maße durch die eigenen Beiträge mit konstruiert wird. Und genau in diesem Sinne wird im Folgenden der Begriff Image verwendet. Gefühle bekommen damit eine zentrale Bedeutung für die Dynamik und den Verlauf von Kommunikationsprozessen. Es kann dann nicht mehr nur darum gehen, wie das Bewusstsein an Kommunikation beteiligt ist sondern wie die Psyche an Kommunikation beteiligt ist. Mit psychologischer Selbstbeschreibung ist aber keine vollkommen durchreflektierte und gegebenenfalls abfragbare Selbstbeschreibung gemeint. Wenn ein Mensch darum bemüht ist sich in einer Interaktion so positiv wie möglich darzustellen, dann gibt die darauf ausgerichtete Verhaltensstrategie zunächst nur Auskunft über das situativ relevante psychologische Selbstbild und ist ein Kommunikationsangebot auf das sich die Kommunikationspartner einlassen können oder nicht.

Damit lässt sich aber nur eine Kommunikationssequenz analysieren. Gefühle haben in dieser Fassung zunächst nur situative Bedeutung und werden hier deswegen genauso wie bewusste Gedanken als Ereignisse psychischer Systeme aufgefasst. Die daran anschließende Frage lautet, welche Bedeutung haben Gefühle über einzelne Kommunikationssequenzen hinaus. Für die Beantwortung dieser Frage wird auf Randall Collins‘ Theorie der Interaktionsritualketten (vgl. 2005) zurückgegriffen, die direkt an Goffmans Interaktionstheorie anknüpft und sich primär als eine Soziologie der Emotionen versteht. Collins geht davon aus, dass bei Interaktionsritualen bestimmte Voraussetzungen gegeben sein müssen. Wenn diese erfüllt sind, werden bestimmte Ergebnisse erzielt (vgl. 2005, S. 48f.). Die folgenden Voraussetzungen müssen für ein Interaktionsritual erfüllt sein: 1. Die Teilnehmer müssen körperlich anwesend sein, 2. es gibt Grenzen, die den Anwesenden signalisieren wer teilnehmen kann und wer ausgeschlossen ist, 3. die Anwesenden teilen einen gemeinsamen Fokus der Aufmerksamkeit und indem sich die Teilnehmer gegenseitig mitteilen, was ihr gemeinsamer Fokus ist, werden sie sich auch darüber bewusst, ob sie ihre Aufmerksamkeit auf dasselbe Objekt richten oder nicht und 4. die Anwesenden teilen eine gemeinsame Stimmung bzw. machen eine gemeinsame emotionale Erfahrung. Die Ergebnisse eines Interaktionsrituals sind 1. Solidarität bzw. ein Gefühl der Zugehörigkeit, 2. emotionale Energie bei den Anwesenden, 3. Gruppensymbole und Gefühle des Respekts und der Verbundenheit für diese Symbole und 4. moralische Gefühle, ein Sinn für richtig und falsch in Bezug auf die Gruppe. Vereinfacht ausgedrückt versteht Collins unter Interaktionsritualen aufgrund der beobachtbaren Effekte emotionaler Ansteckung eine Art Mechanismus zur Verteilung und Transformation von Gefühlen und Stimmungen auf der Basis von gemeinsam geteilten Symbolen. Auch diese Sichtweise wird hier übernommen. Es wird lediglich die Modifikation vorgenommen, dass diese Verteilung und Transformation von Gefühlen und Stimmungen über gemeinsam geteilte Symbole durch Kommunikation erfolgt und nicht nur durch Interaktionsrituale. Die soziologische Systemtheorie Luhmanns geht davon aus, dass Kommunikation das Problem wechselseitiger Intransparenz psychischer Systeme löst. Collins macht im Grunde eine basale Aussage darüber wie Kommunikation dieses Problem löst – nämlich über die Verteilung und Transformation von Gefühlen durch emotionale Ansteckung. Damit wird Collins Konzept des Interaktionsrituals für die Systemtheorie anschlussfähig ohne den Aussagengehalt von Collins‘ Theorie zu schmälern. Es wird lediglich versucht sich von dem stark an das Kriterium der Anwesenheit gebundenen Gesellschaftsbegriff von Collins zu lösen.

Aufgrund der großen Bedeutung der Anwesenheit in Collins‘ Theorie vertritt er einen radikal mikrosoziologisch angelegten Gesellschaftsbegriff, wonach Gesellschaft nicht mehr ist als die Gesamtheit der stattfindenden Interaktionsrituale. In zeitlicher Perspektive betrachtet, stellt sich Gesellschaft dann als eine Kette von aufeinander folgenden Interaktionsritualen dar. Situationsgebundene, vergängliche Gefühle können sich über die Zeit zu lang anhaltenden Stimmungen bzw. emotionaler Energie verdichten, die dann auch wieder in nachfolgenden Interaktionsritualen einen Einfluss auf die situationsgebundenen Gefühle haben (vgl. Collins 2005, S. 105ff.). Je nachdem ob jemand überwiegend positive oder negative Gefühle durch Interaktionsrituale erfährt, können sich diese entweder zu hoher emotionaler Energie verdichten, die sich als Vergnügen, Euphorie, Enthusiasmus oder Glück bemerkbar machen, oder zu niedriger emotionaler Energie, welche zu einer enttäuschten Stimmung, Trübseligkeit oder Depression führen. Darüber hinaus führt positive emotionale Energie zu einer starken Neigung in einer Interaktion die Initiative zu übernehmen während niedrige emotionale Energie eher die Neigung zu passivem Verhalten fördert – dies alles in Abhängigkeit davon ob es gelingt in einzelnen Situationen einen gemeinsamen Fokus der Aufmerksamkeit und gemeinsam geteilte Symbole zu etablieren. Die aktuelle Stimmung eines Menschen ist damit das Ergebnis seiner Geschichte der Kommunikationsbeteiligung.

Es gibt aber heute unzählige Möglichkeiten durch Kommunikation positive oder negative Gefühle zu erfahren. Das sieht auch Collins. Er geht deswegen davon aus, dass Menschen nicht - wie der Rational-Choice-Ansatz annimmt – rationale Nutzen-Maximierer sind sondern emotionale Nutzen-Maximierer (vgl. Collins 2005, S. 141 – 182). Daraus leitet er die Prognose ab, dass Menschen immer Interaktionssituationen anstreben werden, die es ihnen ermöglichen positive Gefühle zu erfahren. Dies muss nicht immer durch bewusste Reflexion erfolgen sondern kann auch intuitiv geschehen. Damit beschreibt Collins eine psychologische Methode mit gesellschaftlicher Kontingenz umzugehen ohne dass sich jede Kommunikationsbeteiligung durch bewusste Reflexion funktionaler Äquivalente als Entscheidung darstellt [4]. Weiter oben wurde im Anschluss an Goffman angenommen, dass Menschen nur über das Image für ihre soziale Umwelt irritierbar werden und dass das Image psychologisch in den Gefühlen verankert ist. Deswegen wird Collins‘ Annahme über die emotionale Nutzenmaximierung dahingehend eingeschränkt, dass Menschen Kommunikationsgelegenheiten anstreben werden, die es ihnen ermöglichen für ihre psychologische Selbstbeschreibung die größte mögliche soziale Bestätigung und damit auch den größten möglichen emotionalen Gewinn zu erlangen. Und umgekehrt werden Menschen versuchen Kommunikationsgelegenheiten zu meiden von denen sie erwarten, dass sie nicht die gewünschte soziale Bestätigung und damit keinen emotionalen Gewinn erzielen werden. Aufgrund der unüberschaubaren Vielzahl an Möglichkeiten soziale Bestätigung und positive Gefühle zu erlangen, ist der Fall dass es jemandem nicht gelingt für das psychologische Selbstbild soziale Anerkennung zu finden ein hoch unwahrscheinlicher Fall.


III. 

Die theoretischen Grundlagen für die Deutung von Amokläufen sind damit in ihren Grundlinien skizziert. Der Fall, dass jemand keine Kommunikationsgelegenheiten findet in denen er mit sozialer Anerkennung für sein psychologisches Selbstbild rechnen kann sind extrem unwahrscheinlich aber nicht unmöglich. Denn die Hypothese lautet, dass der Grund, warum Menschen in einem Amoklauf für sich die einzige noch mögliche Handlungsalternative sehen, darin liegt, dass es diesen Personen nicht gelingt im Verlauf von Kommunikationssequenzen mit den Kommunikationspartnern gemeinsame Symbole zu etablieren, die auch eine positive Bestätigung des psychologischen Selbstbildes ermöglichen. Die Frage ist dann, wieso gelingt ihnen das nicht? Bereits im Troll-Text wurde dargestellt, dass Kommunikationssequenzen mit Zeichen durchsetzt sind, die als Symbole auf die Territorien des Selbst der beteiligten Personen verweisen. Potentiellen Amokläufern gelingt es jedoch nicht sich auf diese Symbole einzulassen. Der Grund dafür liegt im Unvermögen das sozial erwartete spontane Engagement für das eigene Image und das der anderen Beteiligten aufzubringen. Zwar gibt es Fälle in denen dieses Unvermögen auf physiologische Ursachen zurückgeht. Aber bereits Goffman weist darauf hin, dass dieses Engagement für die Aufrechterhaltung der symbolischen Ordnung selbst Ergebnis eines Sozialisierungsprozesses ist (vgl. Goffman 1986b, S. 126).

Mit Collins lässt sich auch beschreiben wie es dazu kommt bzw. was dazu führt, dass Menschen nicht in der Lage sind ein derartiges Engagement aufzubringen. Das fehlende Engagement ist das Ergebnis einer Geschichte der Kommunikationsbeteiligung in dessen Verlauf die Betroffenen kaum bis gar keine soziale Bestätigung ihres psychologischen Selbstbildes erfahren haben. Häufige Verlegenheit bei Kommunikationsgelegenheiten steigert sich zu Unbehagen. Die damit verbundenen negativen Gefühle werden ausgelöst durch Abweisungen, Demütigungen oder Erniedrigungen. Die Betroffenen haben es vermutlich niemals erlebt, dass jemand bereit war das nötige Engagement für das Image der Betroffenen aufzubringen. Irgendwann war es ihnen schließlich nicht mehr möglich dieses Engagement zu erleben, weil sich in der Zwischenzeit die einzelnen negativen emotionalen Erlebnisse zu einer anhaltenden negativen Stimmung verdichtet haben, die geprägt ist durch eine allgemeine Enttäuschung, Frustration und Perspektivlosigkeit. Diese negative Stimmung macht es den Betroffenen zum Einen unmöglich das nötige emotionale Engagement für eine Kommunikationsgelegenheit aufzubringen und zum Anderen verlieren die Betroffenen mit zunehmender Intensität dieser negativen Stimmung irgendwann die im Image angelegte Irritationsfähigkeit. Die negative Stimmung beeinträchtigt ihre Fähigkeit Aufmerksamkeit für den Kommunikationspartner aufzubringen. Vereinfacht ausgedrückt, sie können die Symbole für die Territorien des Selbst ihrer Kommunikationspartner nicht mehr deuten und werden blind für die Stimmungen ihrer Kommunikationspartner.

Goffman bezeichnet das fehlende Engagement für eine Kommunikationssituation als Entfremdung. Davon ausgehend unterscheidet er vier Arten situativer Entfremdung in Abhängigkeit davon was die Ursachen für die fehlende Aufmerksamkeit und das mangelnde Engagement sind. Die Aufmerksamkeit kann abgelenkt werden durch eine Störung von Außen, durch den Kommunikationspartner, durch das eigene Erleben oder durch die Art und Weise wie die Kommunikation abläuft (vgl. Goffman 1986b). Wenn aber die ersten drei Gründe für eine Ablenkung der Aufmerksamkeit häufiger auftreten und nicht nur in einem Kontext sondern in mehreren, kann es schließlich zu einer Entfremdung von Kommunikation selbst kommen, die in einer negativen Stimmung bzw. niedriger emotionaler Energie kulminiert. So verschließen sich für den Betroffenen immer mehr Kommunikationsgelegenheiten bis er schließlich für sich keine Möglichkeiten mehr zur Kommunikationsbeteiligung sieht für die er bereit wäre das notwendige Engagement aufzubringen. Nach Amokläufen kam häufiger heraus, dass der Amokläufer intensiv Ego-Shooter auf seinem Computer gespielt hat. Es wurde allerdings nie bekannt, ob die Täter im Single- oder Multiplayer-Modus gespielt haben. Während man im Single-Player-Modus alleine spielt, kann man im Multi-Player-Modus im Team spielen. Für die Koordination können die einzelnen Spieler miteinander via Internet kommunizieren. Die Vermutung ist, dass die Täter allein gespielt haben. Das Spielen wäre dann eine Art Kommunikationsersatz. Wenn dem so ist, wäre das ein Indiz für die Entfremdungsthese, denn den Tätern ist es nicht gelungen über ihre Hobbies und Interessen Kommunikationspartner zu finden. Sie hätten auch versuchen können ihre Faszination für Waffen und Gewalt in sozial akzeptieren beruflichen Positionen einzubringen – z. B. beim Militär. Dass die Täter solche Gelegenheiten nicht wahrgenommen haben, lässt den Schluss zu, dass bei ihnen nicht nur eine Entfremdung aus bestimmten Kommunikationsgelegenheiten stattgefunden hat sondern eine Entfremdung von Kommunikation als solcher.

Ein weiteres Indiz für die Entfremdungsthese ist die Auswahl der Opfer. So richtet sich die Aggression des Täters nicht nur gegen enge Verwandte sondern auch gegen unbekannte Personen, die den Täter wenn überhaupt nur vom Sehen kennen – z. B. Schulkameraden und Lehrer. Auch das ist ein Hinweis darauf, dass der Täter Kommunikationsbeteiligung als solche ablehnt – zumindest bei den Kommunikationsgelegenheiten, die ihm bekannt sind. Die Wut des Täters richtet sich nicht auf konkrete Personen sondern auf sein gesamtes soziales Umfeld bzw. die ihm bekannte soziale Welt, die ihm nicht die Gelegenheiten bietet sich in der Art und Weise als Person zu erfahren die sich der Täter wünscht. Darin liegt möglicherweise auch der Grund warum sich Amokläufe nur in relativ kleinen, beschaulichen Provinzstädten ereignen und nicht in Großstädten. Während in Großstädten aufgrund der vielfältigen Lebensstile sich fast automatisch ein Kontingenzbewusstsein für alternative Kommunikationsgelegenheiten entwickelt, ist dies in der gemeinschaftlichen Welt einer Kleinstadt nicht so leicht möglich. In Kleinstädten ist es leicht bei funktionierenden Gemeinschaftsstrukturen den Eindruck einer heilen Welt zu erzeugen. Und ebenso leicht ist es die Schattenseiten des Familienlebens wie häusliche Gewalt und sexuellen Missbrauch vor Fremden geheim zu halten.

Ein Amokläufer rebelliert gegen sein soziales Umfeld, weil dies aus seiner Sicht die einzige Handlungsmöglichkeit ist sich von ihr zu befreien. Die Misserfolge und Fehlschläge, die ein Amokläufer im Laufe seines Lebens erfahren hat, sind in einer derart negativen Stimmung kulminiert, dass der Amoklauf inklusive des finalen Selbstmords schließlich als einzige Möglichkeit gesehen wird überhaupt noch einmal positive Gefühle zu erleben und zumindest sein psychologisches Selbstbild zu bestätigen. Im Nachhinein lässt sich zumeist kein Ereignis in der Biographie des Täters finden, dass das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen gebracht hat – also die Tat kausal erklären könnte. Vermutlich gab es dieses Ereignis. Das hat jedoch nicht zu einer Kurzschlussreaktion geführt. Möglichweise sind die Betroffenen aufgrund der niedrigen emotionalen Energie nicht mehr zu einer spontanen emotionalen Reaktion in der Lage. Wenn es ein solches Ereignis gab, dann war es der Auslöser für die Planung der Tat.

Die Ablehnung der sozialen Ordnung, die der Amokläufer für sein Unglück verantwortlich macht, ist allerdings nur ein oberflächlicher Eindruck der durch das unglaubliche Ausmaß der Bluttat nahegelegt wird. Wenn der Täter am Ende schließlich Selbstmord begeht, zeigt sich darin, dass der Täter die Ordnung gegen die er sich auflehnt doch akzeptiert. Der Täter geht vor der Tat davon aus, dass ihm sein soziales Umfeld nicht die Möglichkeit auf ein soziales Leben gibt. Er kann sich relativ gewiss sein, dass er nach der Tat keine Chance auf Kommunikationsgelegenheiten haben wird in denen er soziale Anerkennung und positive Emotionen erfahren wird. Denn das Image des Täters ist mit der Tat vollends ruiniert. Doch obwohl sich der Täter von Kommunikation entfremdet hat, sehnt er sich eigentlich nach sozialer Anerkennung. So rächt er sich an den Personen, die aus seiner Sicht für die soziale Ordnung stehen die ihm ein soziales Leben verwehren. Der finale Selbstmord ist jedoch ein Akt, mit dem diese soziale Ordnung durch den Täter noch ein letztes Mal bestätigt wird, denn erst die Tatsache, dass er trotz dieser Tat emotional in der Lage wäre weiter zu leben, würde zeigen, dass er sie in voller Überzeugung auch in einem politischen Sinne ablehnt. Der Vergleichsfall hierfür ist der Terroranschlag von Anders Breivik. In der Ausführung besitzt diese Tat sehr viel Ähnlichkeit mit einem Amoklauf mit der Ausnahme, dass er am Schluss nicht selbst ums Leben kam – sei es durch eigene Hand oder durch die Intervention der Polizei oder eines Sondereinsatzkommandos. Er hatte es anscheinend nicht darauf angelegt als Märtyrer zu sterben. Durch sein Weiterleben zeigt er, dass er keinerlei Schuld für diese Tat empfindet. Vielmehr ist er stolz darauf. Für ihn hat die soziale Ordnung gegen die seine Tat gerichtet war tatsächlich keine Bedeutung mehr. Er stellt sich über sie, verspottet sie und kann ohne Probleme mit dem Stigma der Tat leben. Für den Amokläufer hat sein soziales Umfeld noch eine Bedeutung. Er akzeptiert ihre Spielregeln auch wenn er ihnen nicht genügen kann und deswegen begeht er am Ende Selbstmord.


IV. 

An anderer Stelle wurde im Anschluss an eine Überlegung von Peter Fuchs die These aufgestellt, dass sich das Hobbesche Problem sozialer Ordnung unter der gesellschaftsstrukturellen Bedingung funktionaler Differenzierung als Problem des Kampfes um die Deutungshoheit des Selbst neu stellt. Es wurde bewusst offengelassen ob es sich um die Selbst(-Referenz) psychischer oder sozialer Systeme handelt. Sowohl der Text „Beobachtbarkeit – Gefahr und Risiko“ als auch die Nachfolgenden schlugen eine sozialpsychologische Richtung ein und interessierten sich für die sozialen Folgen des menschlichen Umgangs mit den Gefahren und Risiken der sozialen Beobachtbarkeit. Der Kampf um die Deutungshoheit des Selbst resultiert aus der Spannung zwischen psychologischer Selbstbeschreibung und sozialer Fremdbeschreibung, der sich bei einer Eskalation als handfester sozialer Konflikt realisieren kann. Zwar wurde im Anschluss an Goffman darauf hingewiesen, dass dieser Kampf auch kooperative Formen annehmen kann. Die von Goffman beschriebenen Techniken der Imagepflege stellen eine Lösung dar, wie das Problem der sozialen Beobachtbarkeit gelöst und der Kampf in eine Kooperation transformiert werden kann. Aus dieser Perspektive müssen Amokläufer als Verlierer dieses Kampfes gesehen werden. Ihnen ist es nicht gelungen eine Verhaltensstrategie zu entwickeln die sozial anschlussfähig war. Ihre Geschichte der Kommunikationsteilnahme ist wahrscheinlich eine Geschichte von Missverständnissen, Abweisungen, Enttäuschungen und wahrgenommen oder tatsächlichen Demütigungen die zu einer schleichenden Veränderung des Gefühlshaushalts der Betroffenen führten, welche sich in der Folge negativ auf seine Fähigkeit zur Kommunikationsteilnahme auswirkten. Dieser zirkuläre, sich selbst verstärkende Prozess wird sozial als eine Mischung aus Zurückgedrängt-Werden und Zurückdrängen-Lassen auch beobachtbar. Die Herausforderung besteht darin solche exkludierenden Kommunikationsstile präziser zu beschreiben und zu verstehen.

Eine Integration der Theorie-Ansätze von Goffman und Collins in die soziologische Systemtheorie Luhmanns könnte dazu beitragen, solche Prozesse präziser zu beschreiben und zu analysieren. Dazu ist es zum einen notwendig die theoretische Verbindung zwischen den Inklusions-/Exklusions-Ereignissen und den daraus resultierenden strukturellen Integrations-/Desintegrations-Effekten zu klären. Hier besteht ein großes theorieinternes Desiderat. Unter Integration versteht Luhmann die wechselseitige Einschränkung von Handlungsmöglichen (2005b, S. 227). Man muss ergänzen, dass gerade diese Einschränkungen dann auch wieder neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen können. Jedes Inklusionsereignis stellt solch eine Schließung und Öffnung von Handlungsmöglichkeiten dar. Die empirische Frage mit Blick auf einzelne Personen lautet dann, ob die Geschichte der Kommunikationsbeteiligung in der Summe zu einem Mehr oder Weniger an Handlungsmöglichkeiten geführt hat? Eine Erhöhung der Handlungs- bzw. Inklusionsmöglichkeiten würde dann zu einer stärkeren Desintegration der Person führen. Während eine Verringerung der Handlungsmöglichkeiten zu einer stärkeren Integration führt. Das ist gemeint, wenn Luhmann darauf hinweist, dass Exklusion viel stärker integriert als Inklusion (vgl. Luhmann 1997, S. 631). Die Analyse des Amokläufers sollte zumindest andeuten wie eine derartige Beschreibung von Integrations-/Desintegrationsprozessen aussehen könnte. Der Amokläufer ist in dieser Hinsicht der hoch unwahrscheinliche aber eben nicht unmögliche Ausnahmefall einer Extremform von Integration. Seine Möglichkeiten zur Kommunikationsteilnahme haben sich auf eine einzige reduziert. Diese Möglichkeit ist der Amoklauf als letzter, verzweifelter Schrei nach Aufmerksamkeit in eine soziale Welt, von der er nicht erwartet jemals die gewünschte Aufmerksamkeit zu bekommen.

Es sollte jedoch auch deutlich geworden sein, dass eine theoretische Klärung des Verhältnisses zwischen Inklusions-/Exklusions-Ereignissen und personaler Integration-/Desintegration nicht ausreicht um personale Kommunikationsgeschichten als Inklusions-/Exklusions-Prozesse in der notwendigen Tiefe zu beschreiben und zu verstehen. Erst wenn die soziologische Systemtheorie um eine emotionssoziologische Perspektive erweitert wird, wird ihr dies gelingen. Der hier vertretene Ansatz stellt den Versuch einer solchen Erweiterung dar. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass Entfremdungsprozesse wie der eines Amokläufers keine zwangsläufige Entwicklung ist. Dieser Prozess ist umkehrbar. Und selbst eine verhältnismäßig starke Integration muss nicht bedeuten, dass die Menschen unglücklich sind. Collins' Typologie von Introvertierten (vgl. 2005, S. 351 – 369) zeigt, dass eine Panik voreilig wäre wenn man sich nur auf den quantitativen Grad der personalen Desintegration/Integration konzentrieren würde. Vielmehr kommt es auf die Qualität bzw. emotionale Intensität von Kommunikationssequenzen an – also ob es gelingt gemeinsame Symbole zu generieren und wie über diese Symbole Gefühle und Stimmungen verstärkt oder gedämpft werden. Um die daraus resultierende Spannung zwischen psychologischer Selbstbeschreibung und sozialer Fremdbeschreibung gerecht zu werden, wird deswegen der Vorschlag gemacht Goffmans Image-Begriff systemtheoretisch als Einheit von psychologischer Selbstbeschreibung und sozialer Fremdbeschreibung zu interpretieren. Dann wird es möglich die in Kommunikationsprozessen beobachtbaren Verhaltensstrategien als Annahme oder Ablehnung von Kommunikationsangeboten zu verstehen. Die Annahme oder Ablehnung wird jedoch in den seltensten Fällen als klares Ja oder Nein kommuniziert. Je nachdem wie viel Engagement für die Wahrung des eigenen Images und das der Kommunikationspartner investiert wird, desto ausgefeilter werden die Techniken der Imagepflege sein. Und die Analyse der Öffnung und Schließung von Handlungsmöglichkeiten und den daraus resultierenden Desintegrations-/Integrations-Effekten wird zu einer sehr defizilen Angelegenheit.


V.

Welche Schlüsse sind aus dem Vorangegangenen für die Prävention von Amokläufen zu ziehen? Wenn Prävention möglich sein sollte, wird das zu einer genauso defizilen Angelegenheit wie die Analyse von Inklusions-/Exklusionsprozessen. Bei potentiellen Amokläufern stellt sich aber ein gravierendes Problem. Wenn sich der Entfremdungsprozess von Kommunikation bei diesen Personen sozial als ein Integrationsprozess darstellt – also schrittweise die Handlungsmöglichkeiten reduziert werden ohne das neue erschlossen werden -, dann wird es schwierig Anzeichen für Entfremdung überhaupt zu erkennen. Denn die Verhaltensstrategien eines potentiellen Amokläufers werden darauf ausgerichtet sein sich der Kommunikation zu entziehen oder sie zu vermeiden. Das heißt nichts anderes als dass diese Personen versuchen sich der sozialen Beobachtbarkeit zu entziehen. Das erklärt möglichweise warum die Täter nach der Tat von Bekannten und Nachbarn als unauffällig beschrieben werden. Kommunikationsvermeidung heißt auch Vermeidung von Aufmerksamkeit. Selbst wenn potentielle Amokläufer noch mit anderen Menschen in Kontakt treten, werden sie nicht versuchen einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Sie versuchen sich sozial unsichtbar zu machen, was eine mögliche Prävention zusätzlich erschwert. Insofern geht die Diskussion um die fehlende Krankenversicherung vieler US-Amerikaner schlicht am Problem vorbei. Die Alternative einer ärztlichen Behandlung würde zum einen bedeuten soziale Aufmerksamkeit zu erregen – der Betroffene muss sich einer anderen Person anvertrauen -, zum anderen müsste sich der Betroffene eingestehen, dass er ein Problem hat. Vermutlich sieht er aber die Ursachen für seine Probleme in seiner sozialen Umwelt. Beides sind Alternativen, die sich nur schwer mit seinem Selbstverständnis vereinbaren lassen. Die Voraussetzungen, dass sich ein Betroffener ärztliche Hilfe suchen wird, sind daher denkbar schlecht [5]. Vielmehr wird der Amoklauf die einzige Form der Kommunikation mit der er ein letztes Mal Aufmerksamkeit erregen will.

Zu der Ego-Shooter-Thematik wurden bereits weiter oben einige Bemerkungen gemacht. Das Hauptargument gegen einen kausalen Zusammenhang zwischen Gewaltspielen und Amokläufen kommt aus der Medienwirkungsforschung. Im Anbetracht der Millionen von Spielern weltweit ist aus der geringen Zahl von Amokläufern, die solche Spiele gespielt haben [6], kein statistisch signifikanter Zusammenhang erkennbar. Möglicherweise unterstützen solche Spiele die Gewaltfantasien der Betroffenen. Es kann jedoch auch vermutet werden, dass die Betroffenen intensive Rachegefühle erfahren, die sie dann auch zu gewalttätigen Rachefantasien inspirieren. Das Gewaltpotential würde dann eher in der intensiven negativen Stimmung und nicht im Gebrauch von Technik liegen. Derselbe Einwand lässt sich im Prinzip auch gegen die Kritik an der liberalen Waffengesetzgebung der Vereinigten Staaten vorbringen. Schusswaffen sind Mittel mit denen potentiellen Amokläufer ihre Rachefantasien ausleben können. Die faktische Existenz von Waffen und der potentielle Zugang dazu, determiniert in keiner Weise, ob diese Waffen benutzt werden. Somit besteht kein kausaler Zusammenhang zwischen dem unkontrollierten Zugang zu Waffen und einem Amoklauf. Nichts desto trotz lassen sich gute Gründe für eine Reglementierung des Zugangs zu Schusswaffen finden um Amokläufe zu verhindern. Schusswaffen kommen den Bedürfnissen eines Amokläufers hinsichtlich des angemessenen Nähe-/Distanz-Verhältnisses zu seinen Opfern entgegen. Hieb- und Stichwaffen sind zu persönlich. Man kommt den Opfern viel zu nahe. Für den Zweck in kürzester Zeit so viele Menschen wie möglich zu töten, sind solche Waffen außerdem ungeeignet. Gift oder Sprengstoff sind dagegen zu unpersönlich. Man sieht nicht, was man seinen Opfern antut. Die Dramaturgie von Amokläufen weicht selten von der Reihenfolge ab, dass zuerst andere Menschen sterben müssen bevor sich der Amokläufer umbringt [7]. Offenbar ist es wichtig vor dem eigenen Tod das Leid und den Tod der Verantwortlichen für sein Unglück zu erleben. Das wäre bei Gift und Sprengstoff nicht möglich. Bei Gift ist man aufgrund der zeitlichen Verzögerung beim Tod der Opfer nicht anwesen. Bei Sprengstoff stirbt man im selben Augenblick wie die Opfer. Insofern könnte ein Schusswaffen-Verbot tatsächlich eine wirksame Prävention darstellen. Die Frage wäre dann allerdings, was mit Personen passiert, die trotzdem die soziale und emotionale Entwicklung durchmachen an dessen Ende der Amoklauf steht? Suchen sie sich andere funktionale Äquivalente um einen Amoklauf durchzuführen - z. B. selbstgebaute Schusswaffen -, begehen sie einfach Selbstmord oder gibt es eine Chance die Betroffen doch wieder für Kommunikationsbeteiligung zu begeistern? Ein Schusswaffen-Verbot birgt das Risiko, dass sich die Gesellschaft in der falschen Sicherheit wiegen würde das Problem hätte sich erledigt. Den poteniellen Tätern wurde aber nur die Möglichkeit zur Ausführung der Tat genommen, nicht aber ihr Problem.

In der Summe stellen freier Waffenbesitz, Ego-Shooter und eine fehlende Krankenversicherung soziale Bedingungen dar im Rahmen derer sich Amokläufe ereignen können. Keine der Rahmenbedingungen für sich noch das Zusammenwirken dieser Rahmenbedingungen kann als Ursache für Amokläufe betrachtet werden. Sie stellen deswegen auch keine wirksamen Stellschrauben dar, um Amokläufe zu verhindern. Abschließend bleibt leider nicht mehr als zu resümieren, dass sich Amokläufe möglicherweise nicht verhindern lassen und dass die einzige Möglichkeit wirksamer Prävention nur darin liegen kann mehr auf seine Mitmenschen zu achten. Dafür müsste vor allem das Bewusstsein für exkludierende Kommunikationsstile und das Bewusstsein für die Kontingenz moderner Lebensstile gefördert werden. Doch ebenso schwierig wie die Prävention ist die Suche nach sozialen Anzeichen für potentielle Amokläufer. Dafür müssen die Analysetechniken für exkludierende Kommunikationsstile verfeinert werden. Dieser Text versteht sich als Beitrag zur Verfeinerung dieser Analysetechniken. Es wurde aber bereits weiter oben darauf hingewiesen, dass man dabei sehr vorsichtig vorgehen muss um nicht die falschen Personen unter den Generalverdacht zu stellen ein potentieller Amokläufer zu sein. Spätestens wenn zur Hexenjagd auf Nerds, Außenseiter oder Einzelgänger gerufen wird, weiß man, dass bereits Grenzen überschritten wurden.




[1] An anderer Stelle wurde versucht diesem Problem mit der Unterscheidung von Systempflege und Imagepflege gerecht zu werden (vgl. Walkow 2007, S. 442f.).
[2] Integrieren darf durchaus im Sinne einer wechselseitigen Einschränkung von Freiheitsgraden verstanden werden.
[3] Das kann auch im Anbetracht der aktuellen Debatten um die Gleichstellung von Frauen in den Führungsetagen deutscher Unternehmen nicht deutlich genug betont werden. Die Einführung einer Frauenquote reagiert auf den Mechanismus der für die systematische Benachteiligung von Frauen verantwortlich ist mit der Einrichtung desselben Mechanismus, nur das jetzt Männer benachteiligt werden. Die zugrunde liegende Annahme ist, dass Männer bei der beruflichen Karriere systematisch bevorzugt werden weil sie Männer sind. Die Bevorzugung erfolgt aufgrund eines naturgegebenen Merkmals, das man in der Regel qua Geburt erwirbt. Die Frauenquote dreht dieses Prinzip lediglich um. Nun werden auch Frauen bevorzugt weil sie Frauen sind. Dabei handelt es sich aber um eine vormoderne Form personaler Bestimmung. Damit soll nicht bestritten werden, dass es Benachteiligungen von Frauen gibt. Es wird lediglich darauf hingewiesen, dass es möglicherweise der falsche Weg ist ein vormodernes und ungerechtes Prinzip mit demselben Prinzip zu bekämpfen bzw. nur auszugleichen anstatt leistungsgerechte und transparente Verfahren einzuführen. Dieses Problem wird langfristig die Legitimität solcher Mechanismen untergraben.
[4] Mit Blick auf Dirk Baeckers „Nächste Gesellschaft“ (2007) sei angemerkt, dass Collins damit Formen der Verarbeitung des Verweisungsüberschusses von Sinn beschreibt. Seine Studien legen allerdings den Schluss nahe, dass für den Umgang mit Überschusssinn möglichweise nicht George Spencer-Browns Formenkalkül die nächste Kulturform sein wird - trotz Spencer-Browns immenser Bedeutung auch für die in diesem Blog vorgestellten Überlegungen – sondern Gefühls- und Befindlichkeitskulturen. Die Studien von Illouz und Collins zeigen außerdem, dass für diese Kulturformen nicht bis zur nächsten Gesellschaft gewartet werden muss sondern bereits seit Jahrzehnten fast unbemerkt im Entstehen sind. Hierbei handelt es sich um die viel beschworenen unentscheidbaren Entscheidungsprämissen. Diese sind - auch das zeigen Illouz und Collins - zwar unentscheidbar aber nicht unveränderbar.
[5] Diesbezüglich wäre eine Erhebung interessant, wie viele Psychologen und Psychiater bereits Personen behandelt haben, die von sich behauptet haben, dass sie ernsthaft einen Amoklauf geplant haben oder auch nur ernsthaft über diese Option nachgedacht haben.
[6] Bisher wurde nicht bekannt, ob Adam Lanza dazu gehörte.
[7] Eine der wenigen Ausnahmen ist der Amoklauf von James Holmes am 20. Juli 2012 in Aurora, Colorado. Die überlebenden Opfer berichteten, dass er während der Tat gelächelt hat. Erschreckenderweise wäre dann das Erlebnis der Tat das einzige Ereignis, dass im Täter noch positive Gefühle auslöste. Es wäre auch interessant zu erfahren, wie es zum Überleben von James Holmes kam. Handelte es sich bei der Tat um einen missglückten Amoklauf oder war der Tod tatsächlich nicht eingeplant?


Literatur
Baecker, Dirk (2007): Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt am Main
Collins, Randall (2005): Interaction Ritual Chains. Princeton
Ehrenberg, Alain (2008): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt am Main
Fuchs, Peter (1997): Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie, in: Soziale Systeme 3, S. 57 – 79
Goffman, Erving (1986a): Techniken der Imagepflege, in ders: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt am Main, S. 10 – 53
Goffman, Erving (1986b): Entfremdung in der Interaktion, in ders: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt am Main. S. 124 – 150
Illouz, Eva (2009): Die Errettung der modernen Seele. Frankfurt am Main
Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main
Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main
Luhmann, Niklas (2005a): Die Form „Person“, in ders: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Wiesbaden 2. Auflage, S. 137 – 148
Luhmann, Niklas (2005b): Inklusion und Exklusion, in ders: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Wiesbaden 2. Auflage, S. 226 - 251

1 Kommentar:

  1. Zum Thema Waffenbesitz, gibt es auf der Seite http://jagdblut.de sehr interessante Artikel unter dem Menuepunkt: Waffen- und Jagdrecht.

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