Die nationalstaatlichen politischen Systeme der
westlichen Hemisphäre sind demokratisch organisiert. Die Einführung der
Demokratie ist die große Errungenschaft der Moderne, denn sie
ermöglicht einen gewaltlosen Wechsel der politischen Führung. Zu den
Funktionsbedingungen der Demokratie gehört der Wettstreit der verschiedenen Parteiprogramme
in der politischen Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit des politischen Systems ist im Vergleich zum Wirtschaftssystem das funktionale Äquivalent zum Markt. Sie ermöglicht,
dass sich die politischen Kontrahenten und das Publikum gegenseitig
beobachten können. Während das Publikum der potentiellen Wähler bis auf die
regelmäßig stattfindenden Wahlen passiv bleibt, sind die politischen
Kontrahenten zur Aktivität verdammt, denn
sie müssen ständig um die Legitimität und Akzeptanz ihrer politischen Programme
kämpfen. Im Prinzip kann jedes Thema Gegenstand politischer Beobachtung werden.
Faktisch hat das politische System eine Eigenselektivität entwickelt, die es
nicht mehr möglich macht jedes erdenkliche Thema zu politisieren. Inzwischen
gibt es thematische Evergreens, die sich scheinbar niemals verbrauchen, z. B.
soziale Ungleichheit. Es kommen aber auch gelegentlich neue Themen hinzu. In
der Art und Weise wie neue Themen in die politische Öffentlichkeit gelangen
und dort von den Parteien aufgenommen werden, lassen sich grob zwei Formen
unterscheiden.
Zum Einen gibt es die zentripetale Form. Die politische
Öffentlichkeit wird im Wesentlichen von zwei Parteien bestimmt und beiden
gelingt es eine parteispezifische Perspektive auf das Thema zu
entwickeln und in das eigene Parteiprogramm zu integrieren. Beide Seiten können
so politisches Profil gewinnen und Wähler binden. Außerdem erleichtert es die Koalitionsbildung und sichert die Regierungsfähigkeit. Diese Form kann man z. B. in
den USA beobachten. Zum Anderen gibt es die
zentrifugale Form. Zwar gibt es auch hier zwei große (Volks-)Parteien, die
sich um die „großen“ politischen Themen kümmern. Daneben bildet sich aber mit
jedem neu dazu kommenden Thema eine Spezialisten-Partei, die sich nun um
dieses neue Thema kümmert und daran politisches Profil gewinnt. Charakteristisch daran
ist, das die großen Parteien sich nicht der Themen der kleinen Parteien annehmen
und umgekehrt. Dies entlastet zwar die einzelnen Partien von dem Druck sich um
alle politisch relevanten Themen kümmern zu müssen und in Konkurrenz
miteinander zu treten. Andererseits trägt dieser Umgang mit neuen Themen
maßgeblich zur Fragmentierung der politischen Milieus und Wählergruppen bei. Die Beschaffung von politischen Mehrheiten für eine stabile Regierung wird immer schwieriger. Obwohl
sich in jüngster Zeit neue Entwicklungen beobachten lassen, ist Deutschland
immer noch ein gutes Beispiel für diese Form der Themenabsorption. Um ökologische
Themen kümmern sich die Grünen, um die soziale Frage kümmert sich Die Linke und
seit Neuestem kümmert sich die Piratenpartei um das Thema Internet.
Die Entstehung der Piratenpartei knüpft einerseits an der alten Tradition, Spezialparteien für neue Themen zu
bilden, an. Andererseits stellen sie aber auch einen Bruch mit der Tradition dar.
Sicherlich lässt sich nicht bestreiten, dass Internetthemen ein gewisses
Mobilisierungspotential besitzen wenn die Grundrechte der Bürger – z. B.
Meinungsfreiheit oder Eigentum – tangiert werden. Das Problem der Piraten ist
jedoch, dass es ihnen nicht gelingt diese Themen, für die sie mehr Kompetenz
und Deutungshoheit beanspruchen als andere Parteien, in der Öffentlichkeit so
darzustellen, dass sie sich als ernst zu nehmende politische Partei profilieren
können. Stattdessen fallen die Piraten noch stärker als Die Linke durch
intensive Beschäftigung mit sich selbst auf. Während Die Linke aufgrund des
hohen Dissenspotentials ihres Hauptthemas um innere Einheit bemüht ist, haben
die Piraten ein Problem damit überhaupt eine Idee davon zu gewinnen, was Politik ist und wie sie als politischer
Akteur in Erscheinung treten können. In der politischen Landschaft stellt dies ein Novum dar.
Auffällig ist z. B. die
Öffentlichkeitsscheue der Piraten. Dies ist umso verwunderlicher, wenn man
bedenkt, dass es ein Erfordernis des politischen Systems ist als Partei öffentlich
um die Gunst der Wähler zu kämpfen. Ebenso auffällig ist die Abwehr einer
Professionalisierung der Parteivertreter und einer geradezu anti-ritualistischen
Haltung gegenüber den etablierten Verfahren der repräsentativen Demokratie, die
aus einem latent egalitärem und radikal basisdemokratischen Gesellschafts- und
Politikverständnis resultiert. Die Piraten haben
bisher nicht hinterfragt inwieweit die Ansprüche, die die Piraten an ihre
innerparteilichen Verfahren der Entscheidungsfindung stellen mit den
etablierten Verfahren des politischen Systems zu vereinbaren sind. Dies alles
sind jedoch nur Symptome, die auf das Fehlen einer Vorstellung davon zurück zu
führen sind was Politik eigentlich ist. Anders lässt sich die Verweigerung sich
auf die Spielregeln der Politik einzulassen nicht erklären. Wenn Politik die Bereitstellung
der Kapazität zu kollektiv bindenden Entscheidungen ist (Luhmann 2002), dann fällt an den
Piraten auf, dass ihnen dies nicht mal im innerparteilichen Rahmen gelingt. Vielmehr
stehen sie inzwischen für chronische Bindungsunfähigkeit. Die Lösung des drängendsten
Problems der Partei – nämlich ihre Selbstfindung, also der Entwurf einer intern
wie extern anschlussfähigen Selbstbeschreibung – wird immer weiter
prokrastiniert.
Exemplarisch für die eigene Fehl-Verortung
der Partei ist auch ein Portrait
von Christoph Lauer auf welt.de. Dieses Politiker-Portrait ist vor allem
deswegen so interessant, weil Politik darin nicht vorkommt. Man sollte
annehmen, dass ein Politiker die Gelegenheit nutzt neben der Möglichkeit sich
als Menschen darzustellen auch über politische Inhalte zu reden um sein
politisches Profil zu schärfen. Aber genau das tut er nicht. Das einzige was
sich überhaupt in irgendeiner Weise als politisch relevantes Thema identifizieren lässt,
ist das Schwadronieren über eine Dyson-Sphäre zur
Lösung der ökologischen Probleme der Erde. Eine Dyson-Sphäre ist im Prinzip
eine künstliche Hülle um einen Stern, die auch noch die Umlaufbahnen mehrerer Planeten mit
einschließt. Zweck dieser Konstruktion ist die Energie der Sonne effektiver zu
nutzen. Lauer ist der Meinung, dass die Menschheit in ca.
1000 Jahren eine Dyson-Sphäre benötigt. Man darf aber auch ernsthafte Zweifel
daran haben, ob die Menschheit in 1000 Jahren über die Technologie, die
Ressourcen und die Logistik verfügt, die nötig sind um eine Dyson-Sphäre zu bauen.
Es handelt sich also um pure Science Fiction und ein unrealisierbares
Weltrettungsprojekt. Politisch relevant wird dies insofern als die Dyson-Sphäre auch
als eine Art Utopia interpretieren werde kann. Lauer lässt das zwar auf der einen
Seite geradezu visionär aussehen, weil es eine unglaubliche Weitsicht und
Umweltbewusstsein demonstriert. Andererseits ist diese Idee für die
Tagespolitik völlig irrelevant, da niemand ernsthaft erwartet, dass diese Idee
in eine politische Agenda überführt wird. Lauer scheint diese Irrelevanz nicht zu registrieren. Aber dass man sich lieber mit dem Bauen von Luftschlössern beschäftigt als sich aktuellen Problemen zu widmen, ist keine Neuheit mehr. Inzwischen lässt sich daraus bloß kein politisches Kapital mehr schlagen.
Das Lauer-Portrait steht durch
diesen eigentümlichen a-politischen Charakter symptomatisch für die gesamte Partei. Verständlicher wird dies, wenn man einen weiteren Aspekt berücksichtigt. Den Piraten hängt ja auch das Image
an eine Partei der Nerds zu sein. Durch das Portrait bekommt man eine Vorstellung
davon, welche politischen Visionen ein durch Star Trek und Star Wars sozialisierter Geek entwickeln kann. Wenn The
Big Bang Theory auf Politik trifft, kommt das dabei raus. Man kann dem
sicherlich einen gewissen Unterhaltungswert zubilligen. Es ist jedoch politisch
völlig irrelevant. Und eben dieser Mangel an politischem Bewusstsein macht die Piraten zugleich so unheimlich. Immerhin
sind Nerds als verschrobene Einzelgänger bekannt, die schon ihre Schwierigkeiten
mit zwischenmenschlichen Problemen des Alltags haben und zudem relativ öffentlichkeitsscheu
sind. Sheldon Cooper ist
der Prototyp, zeigt aber zugleich: schlau ist nicht gleich intelligent (Goleman 1995, S. 53 - 66). Und diese
Leute schicken sich nun an Politik zu machen. Da das Bezugsproblem des politischen Systems ein soziales
Problem ist, erscheint es sehr zweifelhaft, dass die Nerds über die
nötigen sozialen und emotionalen Kompetenzen verfügen um die drängenden politischen
Probleme – und dazu zählen nicht nur Technik-Probleme – zu lösen. Vielmehr zeigt
sich an der Piratenpartei, dass selbst in Teilen der gebildeten Mittel- und
Oberschicht wenig Verständnis für die Funktionsweise des politischen
Systems vorhanden ist. Hohe Kompetenz in technisch-instrumentellen Fragen impliziert nicht zwangsläufig eine vergleichbare Kompetenz für soziale oder gar politische Probleme. Die Piraten sind insofern ein dezenter Hinweis darauf, dass Bildung kein Garant dafür ist,
dass Menschen zu besseren Staatsbürgern werden. Dass sie nicht in der Lage sind ein politisches Programm zu entwerfen, ist dann aber weniger verwunderlich. Ebenso wenig vewundert es, dass soviele Funktionärskarrieren ein jähes Ende finden wegen Burn Out oder schlichter Entnervtheit. Sie sind das Resultat einer spezifischen Selbstüberforderung: die sozialen Bedürfnisse der Nerds stehen den Anforderungen der politischen Öffentlichkeit diametral entgegen.
Solange sich die Piraten nicht
über den Widerspruch klar werden, dass sie versuchen mit einem a-politischen
Selbstverständnis Politik zu machen, wird ihre weitere Zukunft – zumindest für die
Mitglieder – ein Schrecken ohne Ende. Aktuell sind sie den Anforderungen, die ein modernes politisches System an seine Teilnehmer stellt, nicht gewachsen. Die Nerd-Seele der Partei steht dem im Weg. Es bleibt den
Piraten nur zu wünschen, dass sie im Laufe der Zeit das Selbstbewusstsein
entwickeln um zu erkennen, dass sie noch hart an sich arbeiten müssen um als
politische Bewegung ernstgenommen zu werden. Eins ist sicher, dies wird nicht
unter Ausschluss der Öffentlichkeit gelingen.
Literatur
Goleman, Daniel (1995): Emotionale Intelligenz, München
Luhmann, Niklas (2002): Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt am Main
Literatur
Goleman, Daniel (1995): Emotionale Intelligenz, München
Luhmann, Niklas (2002): Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt am Main
Man muss hier einerseits zu bedenken geben: Nerds, Geeks, oder wie auch immer man sie bezeichnen möchte, sind zwar ein großer Bestandteil der Piraten, doch es gibt unheimlich viele Mitglieder, die sozial sehr kompetent sind. Wie die Ennomane in seiner Austrittserklärung schreibt, ist die Kultur der Piraten eine inklusionistische. Sie versucht alle einzubeziehen, die sich mit ihr zu identifizieren versuchen.
AntwortenLöschenhttp://www.ennomane.de/2013/04/13/mein-austritt-aus-der-piratenpartei-ich-schulde-euch-noch-einen-blogpost/
Dabei entsteht eine problematische innere Zerrissenheit, gerade durch den großen Zuwachs an heterogenen Mitgliedern. Das macht es natürlich nicht einfacher.
Zum hier identifizierten Kernproblem der Piraten: Ja, die Piraten wollen Politik neu denken. Sie denken im Grund unpolitisch, sie wollen Macht, kommunikative Macht, neu gestalten. Und dabei denken sie explizit nicht in den von Luhmann explizierten Politikkategorien.
Das heißt nicht, wie hier der Vorwurf lautet, dass sie keine Ahnung hätten, wie Politik funktioniert. Das heißt auch nicht, dass sie trotz höherer Bildung keine besseren Staatsbürger wären. Das heißt vielmehr: Es ist Idealismus, der die Kategorien der Politik aufzubrechen versucht. Viele Piraten, die ich kenne, sind sich bewusst, dass Politik über Öffentlichkeit und über Darstellung funktioniert, doch ihre persönliche Überzeugung ist, dass die Darstellung nicht überwiegen darf. Sie wollen, dass Politik mehr Sacharbeit (und auch Persönlichkeit) und weniger Schauspielerei ist, das ist ja auch ihre Kritik an der Politik. Sie sind (das tatsächlich unbewusst) fast Habermasianer, indem sie glauben, das beste Argument sollte in der Politik den Ausschlag geben.
Dass dies in der aktuellen politischen Diskussion noch nicht so ist und dass die Mechanismen noch andere sind - geschenkt. Doch ihr Ziel ist die Veränderung, nicht die Anpassung an bestehende Gegebenheiten.
(Und auch dort zeigt sich Zerrissenheit, wenn einige nämlich doch die Anpassung fordern, andere jedoch beim Veränderungsaufruf bleiben.)
Idealismus ist aber kein Wert an sich – speziell wenn dieser Idealismus für nichts steht. Klar kann man sich dann immer noch für seinen Idealismus feiern, selbst wenn man mit wehenden Fahnen untergeht. Andererseits könnte man das sture Gegen-die-Wand-Rennen auch als ziemliche Idiotie bezeichnen. Und sich einzubilden mit unpolitischem Denken die Kategorien der Politik aufbrechen zu können, scheint mir doch ziemlich idiotisch zu sein. Ich erinnere nur daran, was das Wort Idiot ursprünglich bedeutete.
AntwortenLöschenDas Vertrauen auf die Macht des besseren Arguments scheint mir so eine Idiotie zu sein. Wo war denn das empirisch schon mal der Fall? Auch die Piraten werden sich auf das Spiel der Politik einlassen müssen. Weder wird sich ein noch so gutes Sachargument ohne etwas Eloquenz durchsetzen lassen, noch wird sich das inhaltsleere Schauspielertum durchsetzen. Statt auf die Macht des besseren Arguments zu vertrauen, wäre es mal Zeit zur Kenntnis zu nehmen, dass man für das, woran man glaubt, auch kämpfen muss. Dafür müsste man aber zuerst etwas haben, woran man glaubt. Zu wissen, woran man nicht glaubt, reicht nicht. Das bietet dann eben auch genug Projektionsfläche für Leute, die man vielleicht nicht in der Partei haben möchte. Die wissen aber, was sie politisch wollen und können das in einer Partei, die jeden tolerieren will, natürlich super ausleben. Wenn man das nicht will, sollte man sich realistische politische Ziele setzen. Dann sieht man nämlich auch, wie man die nicht erreicht.
Um das gleich mal praktisch auf meinen letzten Text „Die Beobachtung der Beobachtung“ zu beziehen. Die Piraten sind zerrissen vom Anspruch unpolitisch Politik machen zu wollen. Das eröffnet zu viele und damit im Grunde genommen gar keine politischen Handlungsoptionen – wobei es eigentlich schon bei den Themen losgeht, die man besetzen möchte, um sich zu profilieren. So gelingt es den Piraten nicht ein konsistentes Image aufzubauen und potentielle Wähler wissen nicht, was sie von den Piraten erwarten sollen. Das scheint mir ein sicherer Weg in die politische Bedeutungslosigkeit zu sein.
Systemtheoretisch ist das Problem der Piraten ziemlich offensichtlich. Gerade weil man es allen recht machen will, gelingt es den Piraten nicht die selbsterzeugte Unsicherheit zu absorbieren. Sie sind nicht in der Lage eine Entscheidung zu treffen, weil sie keine Kriterien haben, mit denen es möglich ist Alternativen zu konstruieren und auszusortieren. Deswegen werden die Piraten früher oder später an dieser Selbstüberforderung zugrunde gehen. Da hilft auch kein noch so gut gemeinter Idealismus. Was man in dem verlinkten Blogpost lesen kann, sind die Symptome des Niedergangs.