Dienstag, 16. Oktober 2012

Beobachtbarkeit - Risiko und Gefahr



Der letzte Blog-Beitrag endete mit der Beobachtung, dass durch das Internet die technischen Möglichkeiten der Beobachtung von Beobachtern immens erweitert wurden und die Gesellschaft sich deswegen mit einem unglaublichen Maß an selbsterzeugter Kontingenz konfrontiert. Dem gegenüber hat sich aber ein Bewusstsein für die damit verbundene gewollte oder ungewollte Anziehung der Aufmerksamkeit noch nicht in ausreichendem Maße gebildet obwohl Beobachtbarkeit an sich nichts grundsätzlich Neues ist. Dieses Bewusstsein wurde auch als Aufmerksamkeit für Aufmerksamkeit bezeichnet. Das mag zunächst eine recht magere Diagnose sein. Berücksichtigt man aber, dass man sich hier auf gesellschaftstheoretischer Ebene bewegt und von Funktions-, Organisations- und Interaktionssystemen abgesehen wird, dann lässt sich nicht mehr sagen. Gesellschaft ist das umfassende System. Außerhalb der Gesellschaft gibt es keine sozialen Systeme. Die eingenommene Perspektive abstrahierte somit von jeglichen Beobachtungsverhältnissen, weil es keine Fremdbeschreibungen von gesellschaftsexternen Beobachtern geben kann. Bevor die innergesellschaftlichen Beobachtungsverhältnisse in den Blick genommen werden, soll zunächst verdeutlicht werden was mit Aufmerksamkeit für Aufmerksamkeit [1] gemeint ist bzw. wie sich diese im Alltag bemerkbar macht.


Fast jeder musste in der Schule oder an der Universität schon mal einen Vortrag halten. Und die meisten werden dieses mulmige Gefühl kennen, das einen bei der Vorstellung überkommt sich vor einer Gruppe von Leuten produzieren zu müssen. Landläufig wird dieses Gefühl auch Lampenfieber genannt. Das Lampenfieber kann in seiner Intensität variieren, je nachdem wie viele Personen man im Publikum kennt und wie groß das versammelte Publikum ist. Im schlimmsten Fall geht es aber so weit, dass es das Bewusstsein blockiert und man nicht in der Lage ist den Erwartungen des Publikums zu entsprechen. Die Rahmung einer Vortragssituation durch die Teilung in Vortragenden und Publikum macht dem Vortragenden bewusst, dass er nun im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Psychisch gesehen, wird die Aufmerksamkeit des Vortragenden völlig von dieser Vorstellung eingenommen. Auf diese Art macht sich für jeden, der sich in solch einer Situation befindet, das bemerkbar, was hier als Aufmerksamkeit für Aufmerksamkeit bezeichnet wurde. Ursache dieser psychischen Blockade ist die Angst vor einer Blamage. Blamieren ist jedoch ein sozial induziertes Problem und resultiert aus den Beobachtungsverhältnissen – genauer aus der Differenz zwischen Selbstbeschreibung des Vortragenden und Fremdbeschreibung des Publikums – die vom Vortragenden als eine Beschädigung des eigenen Images wahrgenommen wird.

Erving Goffmann definiert Image als den positiven sozialen Wert, den man sich aufgrund des eigenen Verhaltens erwirbt und von dem andere annehmen man verfolge ihn (Goffman 1986a). Das Image entsteht in der Interkation mit anderen und in Abhängigkeit von den Images der anderen Interaktionspartner. Die Aufrechterhaltung dieses positiven Wertes kann also nicht vom Träger allein kontrolliert werden, sondern hängt auch vom Verhalten der anderen Anwesenden ab. Damit ist das Image also nichts a priori Gegebenes sondern ein Produkt der Interaktion selbst und insofern ein soziales Konstrukt. In dieser Hinsicht gibt es eine Überschneidung mit dem Begriff der Person bei Niklas Luhmann. Person ist die Form mit der Menschen von sozialen Systemen beobachtet werden. In diesem Sinne werden auch Personen sozial konstruiert. Personenkonstruktionen sind aber selbst keine Systeme. Über die Form „Person“ können Menschen thematisiert werden und sie schränkt Verhaltensmöglichkeiten ein (Luhmann 1991). Menschen gewinnen nur über die Form „Person“ Relevanz für soziale Systeme. Sie werden in gewisser Weise für soziale Systeme adressierbar. Deswegen wird die Form „Person“ auch als soziale Adresse (Fuchs 1997) bezeichnet. Aber auch die Form „Person“ kann von ihrem jeweiligen Träger nicht kontrolliert werden, sondern ist das Produkt der Selbstbeobachtung des Trägers und der Fremdbeobachtung der Kommunikationspartner. ebenso wie beim Image ist man bei der Aufrechterhaltung der sozialen Adresse auf die Kooperation der beteiligten Kommunikationspartner angewiesen. Deswegen werden die Begriffe Image, Person und soziale Adresse im Folgenden synonym verwendet [2]. Jeder Mensch benötigt eine soziale Adresse um an Kommunikation teilnehmen zu können. Damit wird Adressabilität (Fuchs 1997) und Imagepflege (Goffman 1986a) [3] zu einem sozialen Problem mit gesamtgesellschaftlicher Reichweite.

Um genauer zu beschreiben in welcher Form Beobachtbarkeit zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem werden kann, soll im Folgenden auf Luhmanns Bestimmung der Begriffe Risiko und Gefahr zurückgegriffen werden (2005b, S. 140). Luhmann bezeichnet mit Risiko den Fall in dem der Verursacher eines Schadens zugleich der Betroffene ist. Für den Betroffenen stellt der mögliche Schaden ein Risiko dar. Gefahr bezeichnet dagegen den Fall in dem der Verursacher nicht der Betroffene des Schadens ist. Für den Betroffenen stellt der mögliche Schaden eine Gefahr dar. Die Unterscheidung von Risiko und Gefahr dient also zur Beobachtung der Zukunft. Wenn das eigene Image auch von den Kommunikationspartnern abhängig ist, besteht die Möglichkeit einer Imageverletzung durch die Kommunikationspartner. Dies kann von grober Beleidigung bis zu subtilen Taktlosigkeiten reichen. In diesem Fall ist der Verursacher der Imageverletzung jemand anderes und der Imageträger der Betroffene. Sich an Kommunikation zu beteiligen und sich damit der Beobachtbarkeit auszusetzen, impliziert damit die Möglichkeit, dass man Gefahr läuft, dass das eigene Image verletzt wird. Dem gegenüber gibt es aber auch die Möglichkeit dass man selbst der Verursacher einer Imageverletzung sein kann. Dazu können Handlungen zählen die dem bisher verfolgten Image widersprechen und es damit desavouieren. Dazu kann aber auch die oben beschriebene Vortragsituation zählen, in der ebenfalls das eigene Verhalten das Image beschädigt. Sich an Kommunikation zu beteiligen und sich der Beobachtbarkeit auszusetzen, bedeutet also auch, dass man das Risiko einer Imageverletzung in Kauf nehmen muss. Das Vorangegangene wurde zunächst im Hinblick auf Interaktionssituationen formuliert und mit Hilfe der Begriffe Risiko und Gefahr in eine Problembeschreibung gebracht [4].

Im Anschluss an den vorherigen Blog-Beitrag, in dem von der Annahme ausgegangen wurde, dass sich Kommunikation zwischen Anwesenden und Kommunikation zwischen Abwesenden nur unter der Bedingung der Beobachtbarkeit vollzieht, stellt Beobachtbarkeit für die Beteiligten entweder eine Gefahr oder ein Risiko dar. Wenn das Internet lediglich die Beobachtungsmöglichkeiten erweitert, dann erweitert es auch die Gefahren und Risiken für Imageverletzungen. Daran anschliessend, lässt sich nun die These formulieren, dass jede technische Innovation des Internets unter dem Gesichtspunkt diskutiert wird, welche Gefahren und Risiken für die sozialen Adressen von Menschen bestehen [5]. Diese These soll an drei Beispielen von bekannten Internetdiensten plausibilisiert werden: Google Street View, Facebook und youtube.

Das erste Beispiel, das unter dieser Prämisse betrachtet wird, ist Google Street View. Die Idee von Google Street View besteht darin, dass man die herkömmlichen Landkarten durch das abfotografierte Gelände ersetzt. Durch die Kombination der Fotos zu einem einzigen entsteht nicht nur eine Karte, sondern man bekommt die Möglichkeit am Computer durch das abfotografierte Gelände zu scrollen. Vereinfacht ausgedrückt, kann man statt vor die Haustür zu gehen nun auch einen virtuellen Spaziergang unternehmen ohne sich vom Sofa erheben zu müssen. Das ist praktisch, wenn man sich zum Beispiel vor einer anstehenden Wohnungsbesichtigung schon mal ein Bild von der Wohngegend machen möchte.
Von einem interaktionstheoretisch orientierten Standpunkt aus, mutete die Diskussion um Google Street View recht absurd an, da Google Street View nichts Neues möglich machte, sondern nur Altes in einer technisch neuen Form. Für jeden Passanten ist eine Hausfassade sichtbar und diese Sichtbarkeit wurde niemals als Problem beobachtet. Dies geschah erst vor dem Start von Google Street View als über das Fotografieren von Straßenzügen informiert wurde. Das Abfotografieren wurde als Eingriff in die Privatsphäre gesehen. Die Skepsis gegenüber Google Street View bezog sich auf die Möglichkeit, dass durch das Abfotografieren einer Hausfassade und der Zugänglichkeit dieser Abbildung im Internet Informationen über die Einwohner des abgebildeten Hauses beobachtbar werden, die das Image der Einwohner beschädigen könnten. Was sich eigentlich geändert hat, wenn die Hausfassade nicht durch einen Passanten besichtigt wird sondern fotografiert wird, wurde durch die Protestierenden nie expliziert. Mit dem Start von Google Street View legte sich die Aufregung schnell wieder. Ob dies an der Möglichkeit der Verpixelung lag oder sich einfach der Erkenntnis verdankte, dass mit diesem Onlinedienst nichts qualitativ Neues eingeführt wurde, kann an dieser Stelle offen gelassen werden. Bei der Einführung ähnlicher Dienste durch konkurrierende Anbieter blieb jedenfalls jeglicher Protest aus.
Unter der hier angelegten theoretischen Perspektive ist an der Diskussion um Google Street View interessant, dass plötzlich etwas als Problem beobachtet wurde, was vorher selbstverständlich war. Dies konnte vermutlich nur geschehen, weil sofort die Gefahr der (Fremd-)Beobachtbarkeit gesehen wurde ohne kritisch zu hinterfragen, dass der Grad an Öffentlichkeit, der hergestellt wurde, sich nicht von dem unterscheidet, was ohne Google Street View möglich ist. Es scheint sich hierbei um einen Effekt zu handeln, der eintrat als sich die Aufmerksamkeit auf die Aufmerksamkeitsfokussierung richtete. Dabei ging es nicht mal um die stattgefundene Verletzung von konkreten Adressen sondern nur um die Möglichkeit der Fremdbeobachtung [6].

Während die Aufregung um Google Street View aus heutiger Sicht unberechtigt war, kann man dies über das zweite Beispiel nicht sagen. Die bekannt gewordenen Fälle von Cyber-Mobbing über Facebook belegen, dass die Gefahr durchaus real ist. Im Gegensatz zu Google Street View, dessen Zweck es niemals war Personen zu beobachten, ist das im Grunde die Idee von Facebook. Schaut man sich die Geschichte von Facebook an, so ging es aus dem Vorgänger facemash hervor. Dabei handelte es sich noch nicht um ein soziales Netzwerk, sondern um eine Plattform zur Bewertung der Attraktivität von Personen. Hier steht schon klar die Beobachtung im Vordergrund – allerdings die Fremdbeobachtung, die in diesem Fall sicherlich aufgrund der Imageabwertungen von vielen als Gefahr gesehen wurde. Mit Facebook wird von Fremdbeobachtung auf Selbstbeobachtung umgestellt. Nun hat man die Möglichkeit ein Profil anzulegen und selbst zu gestalten. Man fertigt auf diese Weise eine Beschreibung von sich selbst an. Zugleich ist dieses Profil eine Art soziale Adresse. Die Besonderheit besteht darin, dass sie im Gegensatz zu einer Postadresse delokalisert ist und im Prinzip eine weltweite Erreichbarkeit für registrierte Nutzer von Facebook realisiert. Das heißt aber auch, dass man selbst das Risiko der Beobachtung eingeht. Dieses Risiko hat auch Facebook erkannt und die Funktion der Privatsphäre-Einstellungen eingeführt, die es jedem selbst überlässt in welchem Maße man dieses Risiko eingehen möchte. Konkret kann jeder Facebook-Nutzer einstellen mit wem er Informationen über sich teilen will. Nimmt man allerdings die Warnung von Facebook ernst, dass man nur Freundschaftsanfragen von Personen annehmen soll, die man kennt, würde das im Prinzip dazu führen, dass auf Facebook lediglich die bestehenden Beziehungen zwischen Interaktionspartnern abgebildet werden. Im Zuge der Berichterstattung über Daten-Lecks und Mobbingfälle via Facebook scheint das Risikobewusstsein zu steigen und die Nutzer ziehen die Grenzen ihrer Facebook-Privatsphäre schärfer als noch zu Anfangszeiten von Facebook [7]. Es ist also zu erwarten, dass Beobachtungsmöglichkeiten der sozialen Adresse via Facebook wieder eingeschränkt werden. Man kann dies schon fast als eine Art der Imagepflege via Facebook bezeichnen.
Unter dem Gesichtspunkt der Imagepflege springt noch eine weitere Funktion ins Auge: der Like-Button. Dieser ermöglicht es seine geschmacklichen Vorlieben seinen Freunden mitzuteilen: welche Musik, welche Filme, welche Bücher, welches Essen etc. Die Konstruktion der eigenen Adresse erfolgt damit nur über positive, bejahende Informationen. Man kann auf diese Art Überschneidungen in den Interessen mit anderen Freunden finden und so affektiv besetzte Sinngehalte emotional verstärken – im Idealfall daran anschließend auch in Face-to-Face-Begegnungen. Facebook lässt jedoch keine entsprechende Beobachtung über geteilte Abneigungen zu. Möglicherweise ist das eine Präventivmaßnahme nach den Erfahrungen mit facemash. Was auch immer dahintersteckt, nach den Erfahrungen mit Shitstorms, also Empörungs- oder Hasswellen via Internet, bekommt man eine Vorstellung davon, was dadurch vermieden wird. Neben den Imageverletzungen wird auch gegen die Kommunikation negativer Gefühle und Ressentimentbildung via Facebook vorgebeugt. Ganz verhindern kann man derartige Kommunikation zwar nicht, aber Facebook lenkt auf diese Weise die Aufmerksamkeit seiner Nutzer auf die positiven Seiten des Lebens.
Man kann dies als die gute Seite von Facebook betrachten. Dem gegenüber gibt es noch eine dunkle Seite. Nach wie vor steht Facebook unter dem Verdacht, dass es Daten über seine Nutzer sammelt und diese unter Nichtbeachtung datenschutzrechtlicher Bestimmungen kommerziell verwertet. Unklar ist aber welche Daten Facebook sammelt und wie diese verwertet werden. Aufgrund unterschiedlicher nationaler Datenschutzrichtlinien variiert die Sammlung und Verwertung wahrscheinlich schon zwischen einzelnen Ländern. Welche Konsequenzen das auf einzelne Nutzer hat, ist ebenso unklar. Insofern lässt sich kaum etwas über diese Gefahr der Fremdbeobachtung sagen. Bekannt ist nur, dass nicht nur Facebook sondern auch viele Verkaufsportale im Internet die Nutzungshistorie ihrer Kunden auswertet und aufgrund dessen Kaufempfehlungen gibt. Bezüglich dieser Form der Kundenbeobachtung wurde die Befürchtung geäußert, dass ein Ereignis verhindert wird das Serendipität genannt wird. Es handelt sich dabei um einen glücklichen Zufall, dass man bei der Suche nach etwas auf etwas anderes stößt, was man eigentlich nicht gesucht hat. Konkret heißt das, die Verkaufsportale schlagen Produkte vor, die den Kunden interessieren könnten, auf die er aber selbst vielleicht nicht stoßen wird. Folgt man dieser Logik, bedeutet das im Umkehrschluss: Produkte, die den Kunden nicht interessieren, wird er vermutlich nicht suchen und sie werden den Kunden auch nicht interessieren, wenn sie ihm vorgeschlagen werden. Der Eindruck ist deswegen, dass diese Algorithmen, mit denen das Kaufverhalten analysiert wird, Serendipität nicht verhindern sondern fördern sollen. Wie passgenau bzw. erfolgreich die Vorschläge sind, ist eine andere Frage.

Beobachtet man verschiedene Plattformen im Internet unter dem Gesichtspunkt, ob diese als Gefahr oder Risiko beobachtet werden, so zeigte sich, dass Google Street View mehr als Gefahr wahrgenommen wurde und Facebook sowohl eine Gefahr als auch ein Risiko darstellt. Das letzte Beispiel ist youtube. Aufgrund der schlichten Funktion der Bereitstellung der Möglichkeit audio-visuellen Content zugänglich zu machen, steht hier offensichtlich das Risiko im Vordergrund, denn man weiß um die Beobachtbarkeit und nutzt youtube genau zu diesem Zweck. Die Inhalte reichen von Belanglosem bis politisch Relevantem. Gerade durch letzteres gerät youtube in Konkurrenz zu den herkömmlichen Massenmedien. Durch die spezifische Selektivität der Massenmedien und die Aufbereitung der verbreiteten Informationen geht ein Stück Authentizität der mitgeteilten Informationen verloren. Die Bereitstellung von Videomaterial aus erster Hand ohne redaktionelle Aufbereitung lässt die verbreiteten Informationen authentischer erscheinen. Man wird sehen, ob dies langfristig ein Wettbewerbsvorteil sein wird oder nicht doch eher ein Nachteil. Der niedrige Professionalisierungsgrad der meisten Produktionen wirkt zwar irgendwie authentischer zugleich aber häufig auch recht dilettantisch. So lässt sich zwar die Faktizität des Gefilmten in den meisten Fällen nicht bestreiten – im Wissen um die technischen Möglichkeiten der Bildbearbeitung lassen sich Zweifel am Gesehenen aber nicht völlig ausschliessen. Ohne kommentierende Berichterstattung wäre das Gesehene für das Publikum nur schwer einzuordnen. Was die Relevanz des Materials wiederum stark minimiert und im Extremfall nur für die einzuordnen ist, die bei dem gefilmten Ereignis dabei waren.
Unter der hier angelegten Perspektive ist jedoch ein anderes Phänomen bedeutsamer. Es geht um die sogenannten youtube-Stars. Personen, denen es aufgrund ihrer über youtube verbreiteten Videos gelungen ist eine gewisse Berühmtheit zu erlangen. Inzwischen gibt es sogar Beratungsangebote für Content-Produzenten, wie sie ihr Publikum weiter erhöhen können um schließlich die erlangte Aufmerksamkeit kommerziell zu nutzen. Das heißt aber auch stärkere Professionalisierung der Produktionsmethoden. An diesem Beispiel zeigt sich, dass die Aufmerksamkeit für Aufmerksamkeit tatsächlich reflexiv geworden ist, denn man beobachtet andere Produzenten darauf, wie es ihnen gelingt Aufmerksamkeit zu bekommen um dies auch für die eigenen Angebote zu nutzen. Bei der so erlangten Aufmerksamkeit geht es nicht darum wie beobachtet wird, sondern nur dass beobachtet wird. Dass beobachtet wird, lässt sich an den Klick-Zahlen ablesen – aber eben nicht wie. Deswegen wird noch nicht von Beobachtung der Beobachtung gesprochen sondern nur von Aufmerksamkeit für Aufmerksamkeit. Zwar ist auch das im Vergleich zu den Massenmedien nicht neu. Neu ist lediglich, dass sich nun auch Amateure auf die Jagd nach Aufmerksamkeit begeben können und dafür bewusst über youtube die Beobachtbarkeit suchen. Das Geheimnis wie man Aufmerksamkeit bekommen kann, wird vermutlich noch lange geheim bleiben. Staunen kann man bis jetzt lediglich darüber womit man alles Aufmerksamkeit bekommt. Es lässt sich festhalten, dass Beobachtbarkeit mit youtube gesucht und als Risiko in Kauf genommen wird. Vermutlich liegt darin auch der Grund, warum youtube weit weniger kritisch gesehen wurde als Google Street View oder Facebook.

Anhand der drei Beispiele Google Street View, Facebook und youtube konnte gezeigt werden, dass Beobachtbarkeit sowohl zur Gefahr als auch zum Risiko für die sozialen Adressen von Menschen werden kann und auch so beobachtet wird. Je nachdem ob die Aufmerksamkeit gesucht wird oder nicht, wird Beobachtbarkeit zum Risiko oder zur Gefahr. Imagepflege gibt es jedoch nicht erst seit dem Internet. Beobachtbarkeit war deswegen nicht erst seit dem Internet Gefahr und Risiko zugleich. Das Internet erweitert lediglich die Gefahren und Risiken für Imageverletzungen – aber auch die Chancen für Bestätigung und Aufwertung einer Person. Das ändert sich auch nicht, wenn man berücksichtigt, dass Personen in verschiedenen sozialen Kontexten immer nur durch bestimmte funktionsspezifische Merkmale relevant werden und nicht als „ganzer Mensch“. Die Gefahr wird darin gesehen, dass bestimmte Merkmale bzw. Informationen in einem Kontext die Anschlussfähigkeit in einem anderen gefährden können. Besonders deutlich wird die Problematik, wenn man daran denkt, dass Personen ein Doppelleben führen können ohne dass die jeweiligen Interaktionspartner in einem Leben vom anderen wissen. Würden sie davon wissen, wäre das Image des Betroffenen ruiniert. Auch das ist nichts Neues und war schon vor dem Internet möglich. Unter diesem Gesichtspunkt erweitert das Internet nicht nur die Gefahr der Imagebeschädigung sondern steigert auch die Möglichkeiten sozialer Kontrolle und bindet die Träger stärker an ein Image. Das Image ist zwar nicht ausschließlich selbstbestimmt, aber zu einem hohen Maße und bedeutet daher immer auch Selbstbindung bzw. Einschränkung der Verhaltensmöglichkeiten. Gerade darin sah Luhmann die Leistung der Form „Person“, weil sie auch ausschließt, was nicht zur Person gehört (Luhmann 1991, S. 142). In der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft sind soziale Systeme aufgrund ihrer funktionsspezifischen Fokussierung blind für alles was aus der jeweiligen Systemperpektive keinen Informationswert hat. Das ermöglicht allerdings auch größere Freiheiten – also in verschiedenen sozialen Kontexten aktiv zu sein, die früher für unvereinbar gehalten wurden. Dafür wird es allerdings notwendig gegen mögliche das Image beschädigende Fremdbeschreibungen offensiver vorzugehen. Das bedeutet in erster Linie die Relevanz bestimmter desavouierender Informationen in Frage zu stellen. 
Peter Fuchs hat in seinem Adressabilitäts-Text (1997) die Vermutung geäußert, dass sich unter der Bedingung funktionaler Differenzierung der Gesellschaft das Hobbesche Problem sozialer Ordnung neu stellt. Nach den vorangegangenen Überlegungen lässt sich genauer beschreiben, was das bedeuten könnte [8]. Wenn Imageverletzungen oder Beschädigungen der sozialen Adresse aus der Differenz zwischen Selbstbeschreibung und Fremdbescheidung entstehen können, dann wird der Konflikt zwischen Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung zum Kampf um die Deutungshoheit des Selbst. Das ist der Grund warum prominente Personen und viele Organisationen heute die Dienste von Public-Relations-Managern in Anspruch nehmen oder eigene PR-Abteilungen einrichten. Aber auch normale Menschen werden sich diesem Kampf nicht entziehen können, auch wenn sie dabei nicht auf professionelle Hilfe zurückgreifen können. Wenn sie sozial relevant – also anschlussfähig – bleiben wollen, müssen sie sich den Gefahren und Risiken von Beobachtbarkeit stellen. Aus den Studien Goffmans kann man auch lernen, dass dieser Kampf unter Anwesenden häufig gar kein Kampf ist, sondern kooperative Formen annimmt. Gegenwärtig ist es noch zu früh Aussagen darüber zu treffen, ob sich die Sitten bei der Kommunikation via Internet verrohen und tatsächlich mehr Richtung Kampf tendieren. Indizien dafür gibt es einige und es stellt sich die Frage, ob durch die fehlende Anwesenheit der Beteiligten die Hemmungen, die bei Anwesenden aufgrund der Rücksichtnahme auf die Images der anderen Anwesenden besteht, gesenkt werden? Historisch gesehen, befindet sich die Gesellschaft mit dem Internet aber immer noch in einer Art Experimentierphase und wird noch einige Lernprozesse durchlaufen müssen bis ein gelassenerer Umgang mit dem Internet möglich ist als es heute der Fall ist. Es wird also noch eine Weile dauern bis sich zeigt, ob Imagepflege unter Abwesenden mehr kämpferische oder kooperative Formen annehmen kann [9].





[1] Es handelt sich hierbei um einen reflexiven Mechanismus. Vgl. Luhmann 2005a
[2] Damit soll nicht bestritten werden, dass es zwischen dem Image bei Goffman und der Form „Person“ bei Luhmann auch gravierende Unterschiede gibt. Speziell der emotionale Aspekt des Image-Begriffs wird in der Theorie sozialer Systeme nicht abgedeckt.
[3] Adressabilität ist eine Problemformel bzw. ein Desiderat. Die Notwendigkeit einer sozialen Adresse, welche sich aus der Funktionsweise von Kommunikation selbst ergibt, wird erkannt und insofern wird die soziale Adresse für Partizipation an Kommunikation wünschenswert. Kommunikation stellt zwar auch die Lösung dieses Problems dar, determiniert aber noch nicht wie das Problem gelöst wird. Die von Goffman beschriebenen Techniken der Imagepflege sind Lösungsstrategien, die das Wie der Lösung spezifizieren.
[4] Dass dieses soziale Problem zu ernsten psychologischen Problemen führen kann, welches die Betroffenen in die soziale Isolation  – also Exklusion – treiben kann, siehe hier.
[5] Obwohl sich die Überlegungen nur um die sozialen Adressen von Menschen drehen, gelten diese zu einem gewissen Grad auch für die sozialen Adressen von Organisationen.
[6] Dass der vorauseilende Alarmismus der Street-View-Gegner und deren unkonventionelles Öffentlichkeitsverständnis diese selbst desavouierte, sei noch am Rande erwähnt.
[7] Um dem Eindruck vorzubeugen, hier soll die Schlussfolgerung nahegelegt werden, die Mobbingopfer sind selbst schuld dass sie gemobbt wurden, weil sie ihre Privatsphäre nicht angemessen eingestellt haben, sei angemerkt, dass in diesen Fällen wahrscheinlich viel Unerfahrenheit im Umgang mit sozialen Netzwerken mit im Spiel war und die Sensibilität für die Risiken und Gefahren von Beobachtbarkeit noch nicht sehr ausgeprägt war. Auffällig ist z. B. dass solche Fälle überwiegend unter Schülern auftreten. Bedenklich ist in diesem Zusammenhang, dass es inzwischen sogar spezielle Tratsch-Foren gibt, deren einziger Zweck in der Bereitstellung der Möglichkeit zur gezielten Imagebeschädigung zu liegen scheint.
[8] Der von Fuchs beschriebenen Problemkonstruktion wird an dieser Stelle nicht gefolgt, weil sie das Bewusstsein marginalisiert und das Soziale hypostasiert (Fuchs 1997, S. 77). Dass hier auf den Image-Begriff von Goffman rekurriert wird, soll die emotionssoziologischen Implikationen zumindest andeuten, die mit der systemtheoretischen Terminologie nicht fassbar sind.
[9] Trollen als Kommunikationsform, die nur im Internet vorkommt, stellt aus dieser Perspektive eine kämpferische Form dar, da sie häufig auf Imageverletzungen abzielt. Vermutlich handelt es sich beim Trollen um eine Form von Charakter-Wettkampf. Siehe für Charakter-Wettkämpfe Goffman 1986b, S. 259 - 280.

Literatur
Fuchs, Peter (1997): Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie, in: Soziale Systeme 3, S. 57 – 79
Goffman, Erving (1986a): Techniken der Imagepflege, in ders: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt am Main, S. 10 – 53
Goffman, Erving (1986b): Wo was los ist – wo es action gibt, in ders: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt am Main. S. 164 – 292
Luhmann, Niklas (1991): Die Form „Person“, in ders: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Wiesbaden 2. Auflage, S. 137 – 148
Luhmann, Niklas (2005a): Reflexive Mechanismen, in ders: Soziologische Aufklärung 1. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Wiesbaden 7. Auflage, S. 116 - 142
Luhmann, Niklas (2005b): Risiko und Gefahr, in ders: Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven, Wiesbaden 3. Auflage, S. 126 – 162.

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