Samstag, 23. August 2014

Die Beobachtung der Beobachtung 3.3 – Wissen in der modernen Gesellschaft

Im vorletzten Beitrag wurde Niklas Luhmanns Theorie funktionaler Differenzierung kommunikationstheoretisch rekonstruiert. Diese Rekonstruktion bildete den theoretischen Hintergrund, vor dem im letzten Beitrag die Multifunktionalität der Kommunikation als Problem soziologischer Theoriebildung behandelt wurde. Diese Probleme wurden am Beispiel poststrukturalistischer und postmoderner Theorien im Anschluss an Michel Foucault verdeutlicht. Es muss allerdings betont werden, dass es nicht nur speziell um die Diskusanalyse von Foucault geht. Wenn von postmoderner Theorie die Rede ist, wird damit ein Theoriekomplex bezeichnet, der sich durch die im letzten und diesem Text dargestellte Form der Beobachtung bzw. Aufmerksamkeitsfokussierung auszeichnet. Es zählt die Form der Beobachtung und nicht die Selbstbeschreibung. Deswegen wird zum Beispiel auch die Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour dazu gezählt. Obwohl sich Latour selbst nicht als postmodern beschreibt, entspricht seine Theorie genau der Beobachtungsweise, die hier als postmodern beschrieben wird. Mithin betrifft dies viele Ansätze mit macht- oder wissenskritischen Ansprüchen. Obgleich sich diese Ansätze nicht durchgängig als Sozialwissenschaften verstehen, werden damit aber Aussagen über den Phänomenbereich gemacht, für den üblicherweise die Sozialwissenschaften zuständig sind. Der letzte Text konzentrierte sich vor allem auf die Implikationen des diskursanalytischen Machtbegriffs. Als Ergebnisse der Untersuchung konnte unter anderem festgehalten werden, dass postmoderne Theorien keine wissenschaftlichen, sondern politische Zwecke verfolgen, dadurch systematisch eine wissenschaftliche Arbeit hintertreiben und schließlich, dass sie lediglich ein Mittel sind die persönliche Inferiorität zu bestätigen und ihr Ausdruck zu verleihen. Es geht nur darum eine Differenz im Erleben im Vergleich zu anderen Personen zu betonen. Poststrukturalistische und postmoderne Ansätze sind außerdem mit so vielen begrifflichen Verwechslungen durchsetzt, dass sie als schizogene Semantik betrachtet werden müssen. Wer seine Aufmerksamkeitsfokussierung daran orientiert, wird früher oder später mit erheblichen Störungen des eigenen Erlebens und Handelns kämpfen müssen. 

Auch dieser Beitrag wird sich mit den Problemen postmoderner Theorien beschäftigen. Eine grundlegende Annahme postmoderner Theoriebildung im Anschluss an Foucault besteht in der Prämisse „Wissen ist Macht“. Um einen Teil dieser Prämisse drehte sich bereits der letzte Beitrag. In diesem Beitrag wird es nun um die postmoderne Theorie des Wissens im Anschluss an Jean-François Lyotard gehen. Sie wird einer Art Revision unterzogen, um eine Theorie des Wissens in der modernen Gesellschaft zu entwickeln. Dafür wird es notwendig sein von der Theorie funktionaler Differenzierung zur allgemeinen Theorie sozialer Systeme zu wechseln, denn Wissen ist ein so allgemeines Erfordernis für die Koordination des menschlichen Erlebens und Handelns, dass es nicht auf einzelne Funktionssysteme, wie die Wissenschaft, begrenzt ist.

Schon der letzte Text verfolgte das allgemeinere Ziel, die Funktionsweise der Negation für die Sinnkonstitution zu erkunden. Dieses Ziel wird auch mit diesem Text weiterverfolgt. Die postmoderne Theorie des Wissens bietet hierfür einen guten Untersuchungsgegenstand, weil sie, das ist die These dieses Textes, das Problem des Sinnverlustes durch die Art der Theoriebildung erst selbst erzeugt und keine Lösungen dafür anbieten kann. Der Fokus postmoderner Beobachtungen liegt auf der Problembetrachtung. Diese Art der Beobachtung wird auch als Sthenographie bezeichnet. Dadurch wird die postmoderne Theorie Teil des Problems, das sie beschreibt. Der Grund dafür liegt in der Überbetonung der Performativität der Kommunikation. Methodisch wird nur noch der Form der Mitteilung, aber nicht mehr den mitgeteilten Informationen Aufmerksamkeit geschenkt, um die Frage zu klären, wie erfolgreiche Kommunikation funktioniert. Dieses Problem wird von Lyotard und anderen als Legitimationsproblem behandelt. Die Überbetonung der Performanz führt allerdings zu einer Fehleinschätzung der sozialen Funktion der Kritik, die sich in Lyotards Fassung nur in radikaler Negation erschöpft. Ziel der Kritik soll eigentlich die Veränderung der Gesellschaft sein. Postmoderne Kritik führt jedoch in letzter Konsequenz zur Zerstörung des Wissens und zum Sinnverlust. Eine Veränderung der Gesellschaft wird in dieser Perspektive zu einer Unmöglichkeit.

Dem gegenüber soll hier eine Theorie über die Funktion des Wissens in der modernen Gesellschaft entwickelt werden. Wissen wird hier nicht nur als beständig mitlaufende, wechselseitige Erwartung der Kommunikationspartner behandelt (vgl. Luhmann 1990, S. 122), sondern darüber hinausgehend als ein Ergebnis von Differenzierungsprozessen. Das soll heißen, der Prozesscharakter der Gesellschaft rückt im Folgenden stärker in den Mittelpunkt. Gerade im Vergleich zu postmodernen Theorien des Wissens wird sich zeigen, dass Wissen nicht mit dem Kommunikationsmedium Macht gleichgesetzt werden kann, sondern dass Wissen in die Lage versetzt Veränderungen anzuregen – egal ob in Bezug auf soziale Systeme, psychische Systeme oder deren Umwelten. Nur durch Wissen ergibt sich überhaupt die Möglichkeit etwas verändern zu können. Solche Möglichkeiten werden durch die Art postmoderner Aufmerksamkeitsfokussierung systematisch verhindert. Im Zuge der Untersuchung wird nicht nur ein Gegenentwurf zum postmodernen Wissen entwickelt, sondern auch einige Beobachtungen des vorherigen Beitrags aus einer anderen Perspektive nochmals bestätigt.


I

Menschen streben danach ihr Wissen über die Welt und sich selbst zu erweitern, um ihre Handlungskoordination effektiver – d. h. informationsreicher und energieärmer [1] – gestalten zu können. Ob es sich dabei um Wissen handelt, mit dem man die Organisation seines Alltags erleichtern kann, oder um äußerst ungewöhnliches Wissen, dessen methodische Überprüfung sehr anspruchsvoll ist, spielt dabei zunächst keine Rolle. Mit Hilfe von Wissen kann man Annahmen bzw. Erwartungen über die Welt formulieren, welche das Erleben strukturieren und das Handeln orientieren. Erst durch Handeln können diese Erwartungen dann bestätigt oder enttäuscht werden, was wiederum Rückwirkungen auf diese Erwartungen hat. Sie werden bei Bestätigung aufrechterhalten und bei Enttäuschung müssen sie modifiziert oder aufgegeben werden. Es besteht also ein Rückkopplungsverhältnis zwischen dem eigenen Erleben und Handeln. Sobald man mit anderen Menschen interagiert, kann auch deren Handeln das eigene Erleben irritieren und unter Umständen Veränderungen der Erwartungshaltungen anregen. Umgekehrt gilt genauso, dass das eigene Handeln das Erleben der Kommunikationspartner irritieren kann. In Abhängigkeit von bestimmten Erwartungen kann das Handeln das Erleben modifizieren und das Erleben kann das Handeln modifizieren. Wissen steckt damit die Möglichkeiten und Grenzen des Erlebens und Handelns von Menschen ab. Es bildet den Rahmen bzw. den Sinnhorizont für die Koordination des gemeinsamen Handelns. Darin besteht die soziale Funktion von Wissen. In diesem Sinn ist Wissen nicht das psychische Erinnern relevanter Informationen, sondern eine Erwartung, die unhinterfragt bei jeder Kommunikation mitläuft und allenfalls bei Kommunikationsproblemen, also Verständnisschwierigkeiten, zum Thema wird. Je nach dem wie groß die Überschneidungen in den Wissensbeständen der Kommunikationspartner sind, wird sich die Kommunikation reibungsloser oder konflikthafter gestalten. Je größer das gemeinsam geteilte Wissen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit für Konflikte.

Diese Annahme muss sofort wieder eingeschränkt werden, denn der Reiz der meisten Sportwettkämpfe liegt gerade darin, dass das Wissen zwischen den Kontrahenten gleich verteilt ist. Egal ob sich zwei Personen oder Mannschaften in einem sportlichen Wettkampf miteinander messen. Die Kenntnis der Regeln wird bei allen Teilnehmern vorausgesetzt. Der Reiz für die Teilnehmer und die Zuschauer ergibt sich dann aus den im Verlauf des Spiels zu beobachtenden Unterschieden im Spielstand und wie es zu diesen gekommen ist. Bei sportlichen Wettkämpfen ist also gerade das gemeinsam geteilte Wissen über die Spielregeln, also eine hypothetische Gleichheit,  der Anreiz es auf einen Konflikt ankommen zu lassen und genau dadurch die Unterschiede zu erzeugen, die zeigen wer zumindest in dieser Situation der bessere Spieler oder die bessere Mannschaft ist. Sportwettkämpfe zeigen damit zugleich, dass die obige Annahme über konfliktarme Kommunikation, wenn alle das gleiche Wissen haben, in dieser Pauschalität eigentlich nicht haltbar ist, denn Wettkämpfe lassen deutlich werden, dass es nicht auf das Wissen allein ankommt, sondern wie man es einsetzt, um seine Handlungen zu orientieren und ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Neben dem Wissen kommt ein weiterer Faktor in den Blick, nämlich die Erfahrung. Die Kenntnis bestimmter Regeln allein reicht bei Weitem nicht aus, wenn man nicht weiß, welche im aktuellen Moment angewendet werden muss. Dies gelingt nur durch praktische Anwendung, also Training, wodurch das Wissen, wenn man so sagen darf, in Fleisch und Blut übergeht und im Ernstfall nicht jedes Mal erst erinnert und reflektiert werden muss. Man muss also noch einschränken, dass gemeinsames Wissen nur die Wahrscheinlichkeit für bestimmte Konflikte senkt, nämlich für politische Konflikte. Gemeinsam geteiltes Wissen hilft dabei zu verstehen, warum der Kommunikationspartner so handelt, wie er handelt. Und dieses Verständnis minimiert die Wahrscheinlichkeit, dass man Misserfolge oder Niederlagen persönlich nimmt und nun danach trachtet sich mit der Anwendung physischer Gewalt zu revanchieren. Vollständig ausschließen kann man diese Möglichkeit selbst unter dieser Bedingung nicht. Dann kann man aufgrund des gemeinsam geteilten Wissens zumindest noch auf die Kalküle des Kommunikationspartners schließen. 

Negationen haben in Form von Kritik bei der Vermehrung des Wissens schon immer eine wichtige Rolle gespielt. Im Rahmen der hier verwendeten Beobachtungstheorie im Anschluss an George Spencer-Brown (vgl. 1997 [1969]), Gregory Bateson (vgl. 1982 [1979]) und Niklas Luhmann (vgl. 1990, S. 68 – 121; 1993) handelt es sich nicht einfach um eine Vermehrung von Wissen, sondern um Differenzierungsprozesse. Wenn Beobachten bedeutet durch Unterscheidungen etwas zu bezeichnen, dann kommt dem Negationsgebrauch bei diesen Differenzierungsprozessen im Medium Sinn eine tragende Rolle zu. Sei es dass man versucht störende Einflüsse auf den Erkenntnisgegenstand auszuschalten; sei es, dass man versucht den Einfluss des Menschen auszuschalten; sei es, dass man versucht zeitliche bzw. historische Variationen auszuschalten - es geht immer darum einen gleichsam unverfälschten Blick auf den Erkenntnisgegenstand werfen zu können. Mehr noch, geht es darum ein Wissen unabhängig von Menschen, Raum und Zeit behaupten zu können. Also müssen diese Einflüsse methodisch ausgeschaltet bzw. negiert werden. Diese Bemühungen haben sich noch verstärkt seit man darauf aufmerksam geworden ist, dass die Wissensformen selbst in hohem Maße von den kulturellen Rahmenbedingungen abhängig sind, in denen sie entstehen. Mit anderen Worten, die Möglichkeiten und Grenzen der weiteren Ausdifferenzierung von Wissen hängen vom bereits bestehenden Wissen ab und kann bestimmte Entwicklungspfade wahrscheinlicher machen als andere. Doch je mehr variierende Informationen man zu unterdrücken versucht, um etwas Invariantes beobachten zu können, desto mehr Variationen kommen zu Vorschein.

Ein weiteres Problem der Differenzierung von Wissensbeständen, ist das im Verhältnis dazu sich vergrößernde Nicht-Wissen. Wissensproduktion gleicht dem Kampf gegen die Hydra. Schlägt man einen Kopf ab, wachsen zwei neue nach. Schließt man eine Wissenslücke, kommen mehrere neue zum Vorschein. Mit jedem Gewinn an neuem Wissen, erweitert sich zugleich das Wissen darüber, wie groß das Ausmaß an Nicht-Wissen ist. Dieser rasende Zuwachs an neuen Wissenslücken im Vergleich zum gewonnenen Wissen kann mit jeder neuen Erkenntnis immer stärker entmutigen. Das Wissen um die noch zu erledigende Arbeit wird zu einer erdrückenden Last. Allein verfügt man weder über die nötige Zeit noch die nötige Energie, um sie bewältigen zu können. So wächst mit jedem Erkenntnisgewinn nicht nur das Bewusstsein über das eigene Nicht-Wissen, sondern auch die Zweifel am Sinn und Zweck der ganzen Arbeit, denn die Ordnung dieser Datenflut erfordert immer mehr psychische Energie. Nicht wenige Wissenschaftler sind daher bereit genau diese resignierte Schlussfolgerung aus ihrer Arbeit zu ziehen und konzentrieren sich nur darauf mit wissenschaftlichen Mitteln zu zeigen, dass das Streben nach Wissen sinnlos ist. Sie sehnen sich nach paradiesischen Zuständen: unwissend, sorglos und glücklich. Außerdem kann das Wissen der Anderen die eigene fachliche Autorität gefährden. Doch ist der erste Zweifel erst einmal geweckt, lässt sich das Hinterfragen, die Suche, das Negieren, nicht mehr stoppen.

Umgekehrt lässt sich aber auch die Gegenfrage stellen, welchen Sinn es macht sich nur auf das zu konzentrieren, was das Erreichte negiert? Sicherlich, das bis jetzt Erreichte kann entmutigen. Es sind unüberschaubare Wissensbestände entstanden. Kein Mensch allein kann dieses Wissen überschauen und einen Nutzen daraus ziehen. Außerdem ist das jeweilige Wissen über ein Erkenntnisobjekt relativ gering im Vergleich zu dem Wissen darüber, wer was zu welcher Zeit über einen Gegenstand geäußert hat. Es handelt sich, mit anderen Worten, um Wissen darüber, wie man auf eine bestimmte Weise seine Aufmerksamkeit auf ein Erkenntnisobjekt richtet. Je intensiver man sich mit einen Sachverhalt beschäftigt, desto weniger erfährt man zunächst über diesen Sachverhalt, sondern nur darüber, wie viele unterschiedliche Perspektiven man auf diesen Sachverhalt richten kann. Die Unterschiede in der Sozial-, Sach- und Zeitdimension vermehren sich mit der Zeit und die Beziehungen zwischen den drei Dimensionen werden immer komplexer. Doch zugleich erhält man durch die Perspektiven der Anderen eine immer plastischere Vorstellung über das Beobachtungsobjekt – sowohl im Sinne, was das Beobachtungsobjekt sein könnte als auch was es nicht sein könnte. Das Durchkalkulieren dieser informationellen Variationen lässt die Redundanzen zu einem imaginären Eigenwert kondensieren. Dieser imaginäre Eigenwert wird auch häufig als Gestalt oder Form bezeichnet. Um jedoch einen imaginären Eigenwert beobachten zu können, muss man sich für eine oder mehrere kompatible Perspektiven entschieden haben. Die größte Energie benötigen nämlich Beobachtungsformen, die nicht als die eigenen betrachtet werden. Wobei die psychische Energie vor allem für die Konzentration der eigenen Aufmerksamkeit verwendet werden muss, um potentielle Ablenkungen abzuwenden.

Gelegentlich kommt die Wissensproduktion an einen Punkt, an dem neue Kriterien notwendig werden, um das bestehende Wissen bezüglich eines Erkenntnisobjekts neu zu ordnen und um sich nicht mehr mit der überwältigenden Fülle an Wissen auseinandersetzen zu müssen. Kommt es schließlich zu einem Wechsel solcher Kriterien spricht man auch von einem Paradigmenwechsel (vgl. Kuhn 1976 [1969]). Mit neuen Theorien oder Modellen gelingt es nun offene Fragen zu beantworten, die mit älteren Theorien oder Modellen nicht mehr geklärt werden konnten. Damit hat sich aber nicht nur eine neue Form, seine Aufmerksamkeit auf einen Erkenntnisgegenstand zu richten, etabliert. Ein Paradigmenwechsel erlaubt es auch sich nun die Auseinandersetzung mit einer großen Menge an Perspektiven zu ersparen, die noch zum Kanon des vorangegangenen Paradigmas zählten. Der Aufwand an psychischer Energie kann merklich gesenkt werden, um den Informationsreichtum zu bewältigen. Obwohl der Wissenszuwachs dadurch nicht gestoppt wird, bringen solche Paradigmenwechsel zumindest vorübergehend eine Entlastung im Vergleich zur vorherigen Organisation des Erlebens und Handelns.

Die Ironie beim Streben nach Wissen besteht lediglich darin, dass man sich gerade beim Versuch, alle sachlichen, sozialen und zeitlichen Variationen in Bezug auf ein Erkenntnisobjekt auszuschalten, auf diese Variationen einlassen muss und damit auf andere Perspektiven auf dasselbe Erkenntnisobjekt. Wenn sich durch alle diese Perspektiven bestimmte redundante Sinngehalte in Bezug auf das Erkenntnisobjekt beobachten lassen, dann handelt es sich sehr wahrscheinlich um Sachverhalte, die als relativ unabhängig vom jeweiligen Beobachter angenommen werden können. Es ist am Ende die jeweilige Kombination dieser Unterschiede in der Sozial-, Sach- und Zeitdimension, die im Kommunikationsmedium Sinn einen Unterschied machen, der einen Unterschied macht. Es ist also nicht das Erkenntnisobjekt, das seinen Sinn – einige würden hier schon von Wahrheit sprechen – garantiert, sondern es ist die Art und Weise, wie die Aufmerksamkeit auf das Erkenntnisobjekt gelenkt wird, welche die so beobachteten Informationen als Prämissen für die weitere Informationsverarbeitung annehmbar, also als sinnvoll, erscheinen lassen.



II

Je größer die Wissensbestände werden, desto weniger lässt sich dieser Umstand ignorieren, denn die soziale, sachliche und zeitliche Kontingenz des Wissens tritt immer stärker hervor. Der artifizielle Charakter des Wissens, seine Konstruiertheit wird deutlich. Wissen bildet nicht einfach den Erkenntnisgegenstand ab, sondern er wird auf eine bestimmte Weise dargestellt, um beobachtbar zu sein. Diese Darstellungsmittel stehen nicht in einem Korrespondenzverhältnis zum Erkenntnisgegenstand, so als ob man sich allein an den Darstellungsmitteln orientieren könnte, um etwas über den Gegenstand zu erfahren. Die heute kaum zu ignorierende Kontingenz der Darstellungsformen lassen solche Abbildtheorien obsolet werden. Das forciert umso mehr die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit unter denen ein bestimmtes Wissen für sinnvoll, annehmbar, ja möglicherweise auch für wahr gehalten wird.

Auf diese Frage wurden traditionell zwei Antworten gegeben: Geist oder Materie. Zum einen hatte man sich seit Descartes unzählige Male daran versucht den Geist oder das Subjekt in sich selbst zu begründen ohne zu einem schlüssigen Ergebnis zu kommen. Man versuchte zu zeigen, dass es nicht die materielle Umwelt ist, die ihre eigene Wahrheit garantiert, sondern dass die Wahrheit durch den Geist oder das Subjekt, also einen Beobachter, gesichert wird. Man konzentrierte sich aber nur darauf zu betonen, dass das so ist, aber nicht, wie das gelingt. Dabei stieß man auf unvereinbare Widersprüche. Doch die angebotenen Synthesen konnten nicht überzeugen. Ebenso erging es der entgegengesetzten Denkrichtung, die versuchte unhintergehbare und letztgültige Haltepunkte für die Realität in der Materie zu finden. Man versuchte zu zeigen, dass das Erkenntnisobjekt seine Wahrheit garantiert. Dabei kam es jedoch zur Verwechslung des Erkenntnisobjekts mit seinen sozialen Darstellungsformen. Auf der Suche nach letzten Begründungen für die Absicherung des Wissens und letztlich auch der Realität stellte man nur immer wieder fest, dass solche rein selbstbezüglichen oder rein umweltorientierten Begründungen nicht funktionieren. Während sich idealistische Ansätze bei diesen Versuchen in sich selbst verloren, verloren sich materialistische Ansätze in ihrer materiellen Umwelt. Erstere entwickelten deswegen eine spezifische Art der Selbstbefangenheit, letztere dagegen eine spezifische Art der Selbstvergessenheit.

Das änderte sich auch mit dem linguistic turn nicht grundlegend. Zwar wurde man auf ein wichtiges Kommunikationsmedium aufmerksam, nämlich die Sprache. Doch anstatt sich auf die soziale Funktion der Sprache zu konzentrieren, also wie die Kommunikationspartner ihre Aufmerksamkeit wechselseitig mit Hilfe der Sprache auf etwas lenken, versuchte man theoretisch und methodisch wieder nur Geist oder Materie als letzte Haltepunkte für das produzierte Wissen zu beschreiben. Trotz eines geänderten Wissenstands wurde die Problembeschreibung beibehalten, ebenso wie die Lösungsmittel. Der Grund dafür ist ein zustandsorientiertes Denken, das Sachverhalte nur in ihrer Statik beschreiben kann – egal ob essentialistisch, substantialistisch, ontologisch, metaphysisch oder strukturalistisch. Geschichte konnte letztlich nicht als Prozess, sondern nur als Abfolge von Zuständen gedacht werden. Aus dieser Perspektive blieb jedoch unklar, wie es eigentlich zu einem Wechsel der Zustände kommt bzw. wie trotz der Veränderung eines Objekts seine Identität dieselbe bleibt. Mit anderen Worten, der Übergang blieb ein Rätsel. Für solche theoretischen Ansätze muss dann der Prozesscharakter der Kommunikation selbst zu einem Problem werden.

Aber trotz des Wissens, dass die bisherigen Ansätze zur Beantwortung der Frage gescheitert sind, wurden sie nicht an die neue Problemstellung angepasst. Anstatt dieses strukturfixierte Denken aufzugeben, wird mit den Mitteln der Theorie der Prozesscharakter der Kommunikation negiert. Der Poststrukturalismus war letztlich nichts weiter als eine Klage über das Ende des strukturalistischen Denkens und damit auch eine Klage über das Ende statischer Gesellschaftsmodelle. Entsprechend gelang es nicht darüber hinaus zu kommen auf die erkenntnistheoretischen Probleme hinzuweisen, die sich nach dem damaligen Kenntnisstand ergaben. Durch diese Problemfixierung entstand der Eindruck einer theoretischen und methodischen Perspektivlosigkeit, die sich zu einem erkenntnistheoretischen Fatalismus entwickelte, der sich auch als postmodern bezeichnet. Man konnte nur noch auf die Legitimationsbedürftigkeit der Wissensbestände aufmerksam machen (vgl. Lyotard 2012 [1982]). Wie eine Legitimation hergestellt werden könnte, blieb weitestgehend unklar. Die materialistischen und idealistischen Pfade waren eigentlich nicht mehr begehbar. Aber trotz des Wechsels der Aufmerksamkeit in Richtung der Darstellungsmedien - dazu gehört allerdings nicht nur die Sprache! – gelang es nicht die Problemstellung unter dieser Bedingung neu zu formulieren, wodurch der Blick auf neue Lösungsansätze versperrt blieb.

Gefangen in den Widersprüchen idealistischer und materialistischer Ansätze, ohne dass ein Ausweg erkennbar wäre, begab man sich wieder auf die ausgetrampelten Pfade. Die materialistischen Ansätzen fielen wieder hinter den linguistic turn zurück und haben bis heute kein angemessenes Bewusstsein für das Darstellungsproblem entwickelt. Nach wie vor geht man von einer Wirklichkeit aus, die sich mit den entsprechenden Methoden frei von jeglichen Verzerrungen der Sprache oder des Bewusstseins beobachten lässt. Das unkritische Verhältnis zum eigenen Darstellungsmedium verleitet jedoch immer wieder zu naiv-realistischen Methoden. In der Folge werden andere Theorien einfach als realitätsverzerrende Ideologien abgelehnt. Man glaubt nur durch genaues Beschreiben eine wirklichkeitsgetreue Abbildung produzieren zu können. Sollte die Beschreibung nicht passen, so folgt daraus nur mehr desselben, also noch mehr Beschreibung. Zugleich fehlen jedoch Kriterien, mit denen man abschätzen kann, wie man zu einem Ende kommt. Anstatt sich mit der Vorläufigkeit des produzierten Wissens abzufinden, kommt die wissenschaftliche Arbeit im Bestreben nach Präzision und Genauigkeit nie zu einem Ende und produziert am Ende überhaupt kein Wissen – zumindest keines das die menschliche Handlungskoordination erleichtern würde [2]. Derartige methodische Ansätze können nur von der Vorstellung getragen sein, dass es möglich ist mit Sprache die Wirklichkeit abzubilden. Trotzdem man auf die Darstellungsfunktion der Sprache aufmerksam geworden ist, wird weiterhin versucht sie auf ihre Anzeigefunktion zu reduzieren. Idealistische Ansätze sind zwar noch in der Lage zu erkennen, dass es auf diese Art nicht funktioniert. Während materialistische Ansätze noch von einem naiven Vertrauen in die Abbildungsfunktion der Sprache getragen werden, trägt den Idealismus das Gegenteil, ein ebenso naives Misstrauen. Weil es mit Sprache nicht gelingt die Wirklichkeit abzubilden, bestreitet man grundsätzlich die Möglichkeit die Wirklichkeit zu erkennen. Aber anstatt nach neuen Lösungsansätzen zu suchen, findet man sich lieber mit dem Missstand ab und spricht von der Positivierung des Unbestimmten (vgl. Gamm 1994). Der eigene blinde Fleck wird gleichsam institutionalisiert und die Paradoxie unbestimmter Bestimmtheit zur Abschlussformel und Reflexionsblockade [3]. Das Problem selbst wird zur Lösung umgedeutet. Dabei handelt es sich insofern nicht um eine neue Lösung, weil sich ähnliche Lösungsansätze bereits bei verschiedenen Religionen finden lassen.

Wissenschaftlich betrachtet, sind sowohl Materialismus als auch Idealismus äußerst unbefriedigend, denn beide versuchen mit scheinbar wissenschaftlichen Mitteln zu zeigen, dass Erkennen, Wissen und Wissenschaft unmöglich sind. Trotzdem hat man sich inzwischen weitestgehend mit diesem performativen Widerspruch abgefunden, dass auf diese Weise die Ergebnisse der eigenen Arbeit die eigene Arbeit negieren. Sofern man mit absoluten Konzepten von Erkennen, Wissen und Wissenschaft arbeitet, ist dies aus der Innenperspektive heraus sicherlich auch eine zutreffende Beobachtung. Diesen erkenntnistheoretischen Absolutheitsanspruch findet man heute allerdings fast nur noch in der Philosophie und der Religion. Obgleich der Einfluss der Philosophie auf die Wissenschaft bis heute noch unübersehbar ist, stellt sich trotzdem die Frage, in wie weit Theorien und Methoden, die sich in der Botschaft über die Zwecklosigkeit der Wissenschaft erschöpfen, noch als Wissenschaft betrachtet werden können? Dieser Widerspruch wird heute immer mehr durch die unterschiedlichen Erwartungshaltungen von Wissenschaft und Philosophie forciert. Während wissenschaftlich produziertes Wissen immer unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit steht und jederzeit durch entsprechende neue Forschungsergebnisse geändert werden kann, werden die philosophischen Theorien immer noch von der Erwartung auf universell gültiges und unveränderbares Wissen getragen. Für solche Erwartungen halten heute die verschiedenen Religionen die entsprechenden Sinnangebote bereit. An beide philosophische Denktraditionen lässt sich deswegen die Frage stellen, ob sie nicht möglicherweise ihre Erwartungshaltungen in Bezug auf das erhoffte Wissen ändern müssten. Letztlich wird von beiden nur die Vorläufigkeit und zwangsläufige Unvollständigkeit des Wissens als Argument benutzt, um es abzulehnen. Wenn man jedoch mehr an letztgültigen, unumstößlichen Wahrheiten als an vorläufig gesichertem Wissen interessiert ist, verfolgt man kein wissenschaftliches, sondern ein religiöses Erkenntnisinteresse.

Darüber hinaus fanden die Entwicklungen zur Überwindung der Probleme des Materialismus und Idealismus nicht in der Philosophie, sondern in der Biologie, der Kybernetik, den Kognitionswissenschaften und der Soziologie statt. Mit Konzepten wie Autopiesis, Selbstreferenz oder Beobachtung 2. Ordnung stehen heute Mittel zur Verfügung, mit denen sich die erkenntnistheoretischen Probleme der Philosophie bearbeiten lassen. Die entscheidenden wissenschaftlichen Entwicklungen vollzogen sich plötzlich außerhalb der Philosophie. Obgleich sich die Philosophie bis heute als eine Art Reflexionstheorie der Wissenschaft versteht, wurde ihr auf einmal vorgeführt, dass die Wissenschaft nicht mehr auf sie angewiesen ist. Und es scheint so, dass sich zumindest Teile der Philosophie für diese narzisstische Kränkung dadurch revanchieren, dass sie nun die Botschaft von der Zwecklosigkeit der Wissenschaft bzw. der Unmöglichkeit der Sinnkonstitution verbreiten. Entsprechend lesen sich dann die Kritiken an der wissenschaftlichen Konkurrenz der Philosophie häufig wie Abwehrreflexe, die nicht bereit sind ihre eigenen falschen Erwartungen zu korrigieren. Häufig laufen diese Kritiken auf die Feststellung hinaus, dass der Konkurrenz auch bloß nicht gelingt, was einem selbst nicht gelingt. Das führte dazu, dass Lyotards Geschichte vom Ende der großen Erzählungen (vgl. 2012 [1982]) selbst zur großen Erzählung wurde. Wissen und Sinnkonstitution werden rhetorisch zu einem mystischen Rätsel aufgebauscht. Wenn man allerdings nicht bereit ist, die Erwartung oder besser den Wunsch nach absoluter Gewissheit aufzugeben und auch andere Ansätze nur an diesem Maßstab misst, dann geht die Kritik natürlich systematisch fehl, denn die kritisierten Ansätzen werden nicht mehr von einer derartigen Erwartung getragen. Entsprechend kann man dann nur noch ein allgemeines Scheitern des Geistes an sich selbst konstatieren, welches den propagierten erkenntnistheoretischen Fatalismus verständlich macht. Gerechtfertigt ist er trotzdem nicht.



III

Philosophische Ansätze metaphysischer Prägung – poststrukturalistische und postmoderne Ansätze werden hier dazugezählt – haben also ein Problem damit, die Darstellungsfunktion der Kommunikationsmedien theoretisch zu erfassen. Dabei rächt sich der ostentativ gepflegte Anti-Funktionalismus. Wie bereits weiter oben dargestellt, hat Wissen die Funktion das Erleben und Handeln der Kommunikationspartner zu strukturieren und zu orientieren. Ohne Wissen ist es den Kommunikationspartnern nicht möglich einem Ereignis, das im gemeinsamen Zentrum der Aufmerksamkeit stattgefunden hat, einen Sinn zu geben. Ohne Zwecke, Ziele oder Funktionen, an denen sich das Erleben und Handeln orientiert, gibt es keinen Sinn (vgl. Csikszentmihalyi 2005 [1993], S. 250).  Wer es vermeidet die Frage nach dem Zweck von Wissen zu stellen, behauptet daher von vorn herein die Funktionslosigkeit des Wissens. Damit sagt man zugleich, dass das gemeinsame menschliche Streben nach Wissen sinnlos sei. Diese Annahmen sind empirisch so offensichtlich falsch, dass man sich wundert, wie man eine solche Annahme ernsthaft äußern kann, denn sie betrifft ja auch das eigene Erleben und Handeln. Sicherlich steht es jedem frei, den theoretisch/methodischen Ansatz zu wählen, von dem man sich den meisten Erkenntnisgewinn erhofft. Ohne funktionalistische Annahmen ist der Sinnverlust allerdings bereits zu Beginn der Arbeit vorprogrammiert – sowohl in Bezug auf die Aussagen, die man noch über die Umwelt machen kann, als auch in Bezug auf die eigene Arbeit. Tatsache ist jedoch, dass derartige Annahmen kurioserweise nicht nur vertreten werden, sondern auch noch Anspruch darauf erheben die soziale Wirklichkeit zu beschreiben. Es scheint daher notwendig nicht nur das theoretische Problem dieser Ansätze zu bestimmen, sondern wie sich der Sinnverlust aus einer solchen Perspektive darstellt.

Lyotard kommt in seinem Bericht über das postmoderne Wissen zu dem Ergebnis, dass die Legitimität allen Wissens nicht mehr extern, d. h. durch die Umwelt, abgesichert ist (vgl. 2012 [1982]). In dieser Form drückte er aus, dass es weder ein Abbild- noch ein Korrespondenzverhältnis zwischen externem Beobachtungsobjekt und systemeigenen Formen der Aufmerksamkeitsfokussierung gibt. Daraus schloss er, dass die Legitimität allen Wissens nur systemintern, d. h. diskursiv, gesichert werden kann. Dies gelingt aber nicht durch die Unterstellung eines Konsenses vorab, sondern nur durch Widerspruch bzw. Dissens im Rahmen eines systemspezifischen Sprachspiels. Lyotard benutzte Wittgensteins Begriff des Sprachspiels, um die Operationsweise der Kommunikation zu beschreiben. Durch den permanenten Widerspruch sollen die Paradoxien der Systemregeln aufgedeckt werden. Lyotard bezeichnet diese Methode als Paralogie. Sie ist eng verwandt mit Derridas Methode der Dekonstruktion. Ein System soll auf diesem Weg in einen permanenten Konflikt zu sich selbst geraten. Ziel ist die dauerhafte Destabilisierung der Regeln eines Sprachspiels, um genau dadurch die Regeln ändern zu können.

Eine wichtige Rolle schreibt Lyotard dabei den neuen Technologien der Informationsspeicherung und –verbreitung, wie Computern und Internet, zu. Er hoffte, dass durch den Informationsumschlag in Echtzeit eine ausgeglichene Verbreitung des Wissens erreicht werde, wodurch alle Teilnehmer eines systemeigenen Sprachspiels ebenbürtige Kontrahenten werden. Die gleichberechtigte Partizipation an einem bestimmten Sprachspiel, so die Hoffnung, müsste dann zu einer stärkeren Legitimität des produzierten Wissens führen. Lyotard spricht sogar von Spielen „mit vollständiger Information“ (2012 [1982], S. 154). Schon allein gegen diese Erwartung lässt sich einwenden, dass der Aufwand für das Erreichen vollständiger Informationen alle Zeit und Energie einer Person binden würde. Man wäre, mit anderen Worten, nur damit beschäftigt sich über Datenbanken das benötigte Wissen anzueignen, mit dem es dann möglich sein soll sich an den Sprachspielen zu beteiligen. Ein Zustand vollständiger Informiertheit ist jedoch nur ein hypothetischer Idealzustand, der praktisch nicht zu erreichen ist. Wenn vollständige Informiertheit also nicht zu erreichen ist, stellt sich die Frage, wann die Wissenssucher sich jemals an Sprachspielen beteiligen sollen. Wie kann man überhaupt wissen, wann man diesen Zustand vollständiger Information erreicht hat? Knüpft man außerdem die Geltung von Wissen ausschließlich an seine Performativität, dann kann der Indikator für vollständige Informationen praktisch nur konformes Verhalten sein. Solange man nicht für sein Verhalten kritisiert wird, kann man sich in der Sicherheit wiegen über vollständige Informationen für eine gleichberechtigte Teilnahme zu verfügen. Diese Art der Sicherheit, die eine ausschließliche Orientierung an anderen Personen mit sich bringt, hat sich jedoch schon häufig als trügerisch herausgestellt. Lyotard geht also bereits von unrealistischen Zielvorstellungen – vollständige Informationen – aus. Entsprechend unrealistisch fallen dann auch die Lösungsvorschläge aus. Wenn die Legitimität des Wissens durch konformes Verhalten abgesichert wird, besteht die Lösung, wenn man die Legitimität des verfügbaren Wissens bestreiten möchte, konsequenterweise in abweichendem Verhalten. Die Provokation von Dissens dient in Lyotards Szenario dann allerdings nur dazu die Möglichkeiten für die Ablehnung eines Kommunikationsangebots zu erweitern.

Genau diesen Zweck verfolgt die Methode der Paralogie. Delegitimierung durch Paralogie führt die Paradoxien des Systems vor Augen. Die offengelegten Paradoxien liefern einen guten Grund für die Ablehnung der vermeintlichen Zumutungen eines Systems. Sie liefern jedoch keine konstruktive Kritik, die dazu beitragen könnte eine Erwartungszumutung anzunehmen oder die Regeln des systemeigenen Sprachspieles zu ändern. Wie praktische Paralogie aussehen kann, führt Lyotard am Beispiel der Systemtheorie vor. Maßgeblich angeregt durch die Lektüre von Luhmanns „Legitimation durch Verfahren“ (1983 [1969]) zieht er die Schlussfolgerung, dass die Legitimität der Wissensbestände in ihrer Performativität abgesichert ist (vgl. Lyotard 2012 [1982], S. 116). Es zählt weniger der Inhalt der Wissensbestände, sondern nur wie sie dargestellt werden. Diese Schlussfolgerung bildet die Prämisse mit der Lyotard das postmoderne Wissen beschreibt. Zugleich wirft Lyotard jedoch der Systemtheorie vor, dass ihr die wissenschaftliche Grundlage fehle (vgl. 2012 [1982], S. 145) und versucht darüber hinaus gemäß der vorgeschlagenen Methode der Paralogie die Systemtheorie mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen und ihre immanenten Widersprüche aufzuzeigen. Er versucht also einen Beitrag zum systemtheoretischen Sprachspiel zu leisten. Mehr noch, versucht er aus dem Ergebnis wiederum Prognosen für den Umgang mit postmodernem Wissen abzuleiten. Doch anstatt nun einen Verbesserungsvorschlag für die Änderung der Regeln des systemtheoretischen Sprachspiels zu liefern, qualifiziert er es einfach als unwissenschaftlich ab. Das zeigt, dass es Lyotard gar nicht um eine Beteiligung am systemtheoretischen Sprachspiel geht, sondern nur um dessen Delegitimierung, damit er sein Sprachspiel an die Stelle der Systemtheorie setzen kann. Konstruktive Kritik formuliert in Bezug auf das Kritisierte ein „ja, aber…“. Die Paralogie benutzt dagegen die offengelegte Paradoxie, um eine vollständige Ablehnung rechtfertigen zu können. Sie drückt also nur ein schlichtes „Nein“ aus ohne das klar wäre, was die Alternative ist. Paralogie tut also zunächst so als würde sie konstruktive Kritik üben, nutzt dann aber die aufgezeigten Theorieprobleme nicht für Veränderungen der Theorie, sondern als Grund ihre Regeln vollständig ablehnen zu können. An ihre Stelle wird dann das eigene Sprachspiel gesetzt, dass jedoch ohne die abgelehnte Theorie gar nicht möglich gewesen wäre. Mit anderen Worten, Lyotard beteiligt sich an einem aus seiner Sicht unwissenschaftlichen Sprachspiel und nutzt dessen Regeln und Argumente gegen dieses Sprachspiel. In der Konsequenz müsste das Ergebnis allerdings genauso unwissenschaftlich sein.

Dieser performative Widerspruch zeigt, dass es nicht um konstruktive Kritik und Veränderung geht. In Lyotards Szenario kommt dem Dissens die soziale Funktion zu, die Bedingungen für legitime Ablehnung zu testen. Im Anschluss daran wird die Provokation von Dissens in der Form des Protests zum Selbstzweck. Es zählt nur die blinde Suche nach Widersprüchen am abzulehnenden Kommunikationsangebot. Der Sinnkontext, in dem die widersprüchlichen Informationen zu einem konsistenten Bild zusammengefügt werden könnten, interessiert nicht. Wichtig ist nur noch die Form des Protests, egal wogegen protestiert wird. Es geht nur noch um das Empören um des Empörens willen und um den Protest um des Protestierens willen. Die Ironie dieser Lösung besteht jedoch darin, dass die Performativität des Protests zum Erkennungszeichen für konformes Verhalten im postmodernen Sinne wird. Obgleich der Protest die Legitimität gültiger Wissensformen in Frage stellen soll, liefert er nur neue Formen konformen Verhaltens. Non-Konformität wird zum neuen Konformismus, der Konformismus als deviant ablehnt. Konflikte um bestehende Verhaltensregeln werden dann allerdings zu reinen Verdrängungskämpfen, bei denen nicht die bestehenden Regeln für konformes Verhalten weiterentwickelt werden, sondern lediglich die bestehenden Regeln durch andere ersetzt werden. Wenn jedoch Non-Konformismus zur neuen Regel erklärt wird, gibt es nur noch eine Regel – nämlich die, dass es keine Regeln mehr gibt. Ohne Regeln gibt es kein gültiges Wissen mehr. Ohne Wissen lassen sich jedoch auch keine Erwartungen mehr bilden. Und ohne Erwartungen lässt sich auch kein Sinn mehr zuschreiben. Die postmoderne Kritik der Regeln führt also den Sinnverlust selbst herbei. Die Unübersichtlichkeit ist damit kein Merkmal der Gesellschaft, sondern ein Eindruck, der sich aus der Form der postmodernen Aufmerksamkeitsfokussierung selbst ergibt.



IV

Gegen Lyotard lässt sich einwenden, dass für die Ablehnung eines Kommunikationsangebots keine Gleichverteilung der Wissensbestände vorliegen muss. Im Gegenteil, je weniger Wissen man besitzt, um ein bestimmtes Kommunikationsangebot beurteilen zu können, desto leichter fällt es, das Angebot abzulehnen. Ebenso wenig muss ein Zustand vollständiger Information zwischen den Beteiligten vorliegen. Nicht nur, dass vollständige Information empirisch unmöglich ist, sie ist auch nicht notwendig für Dissens. Stattdessen wird der Dissens gerade durch die Ungleichverteilung des Wissens erzeugt und trägt zugleich durch die kommunikative Abarbeitung zur Verbreitung des Wissens bei. Das führt nicht zu vollständigen Informationen, sondern allenfalls zu einer tendenziellen Konvergenz der Perspektiven, ohne sie jedoch jemals vollständig erreichen zu können. Die Konvergenz kann aber soweit gehen, dass die Beteiligten zumindest wechselseitig verstehen, warum die Beteiligten einen bestimmten Sachverhalt so erleben, wie sie ihn erleben, und so handeln, wie sie handeln. Es ist daher gar nicht notwendig künstlich einen Dissens zu erzeugen. Die ungleiche Verteilung des Wissens sorgt schon dafür, dass es zum Dissens kommt.

Und selbst wenn ein solcher Idealzustand vollständiger Informiertheit erreichbar wäre, garantiert dies noch lange keine ausgeglichenen Machtverhältnisse. Auch bei gleichen Wissensbeständen wird es Gewinner und Verlierer geben. Das versuchte Lyotard vermutlich anzudeuten, wenn er die systemeigenen Sprachspiele unter der Bedingung gleicher Wissensverteilung nicht nur als Spiele mit vollständigen Informationen, sondern auch als „Nicht-Nullsummenspiele“ (vgl. 2012 [1982], S. 154) bezeichnet. Es stellt sich dann allerdings die Frage, was unter diesen Bedingungen Gerechtigkeit bedeuten soll? Lyotard hält es anscheinend für gerecht, dass unter der Bedingung gleicher Wissensverteilung allen Beteiligten der gleiche unerschöpfliche Möglichkeitsraum des Wissens zu Verfügung steht, um gegeneinander zu protestieren. Lyotard irrt allerdings, wenn er annimmt, dass es unter diesen Bedingungen nicht zur Bildung von Gleichgewichten kommt. Werden sich die Mitspieler ebenbürtiger, wird es immer schwieriger einen Sieg zu erlangen. Irgendwann, wenn die Spieler tatsächlich ebenbürtig sind, können sie sich eigentlich nur noch gegenseitig in Schach halten. Im Prinzip blockieren sie sich dann gegenseitig und niemand kommt mehr zum Zug. Dieser Zustand scheint Lyotards Vorstellung von Gerechtigkeit zu entsprechen. Ein sportlicher Wettkampf würde an diesem Punkt mit einem Unentschieden enden. Außerhalb von eingehegten Wettkämpfen würden die Beteiligten an diesem Punkt entweder getrennte Wege gehen oder sich gegenseitig ihren Fähigkeiten Respekt zollen und beginnen miteinander zu kooperieren.

Hinter der Frage nach der Legitimität der Wissensbeständige steckt die Frage nach den Bedingungen, unter denen ein bestimmtes Kommunikationsangebot angenommen oder abgelehnt wird. Die Formulierung dieses Problems mit Hilfe von normativ/rechtlichen Begriffen, wie Legitimität und Gerechtigkeit, verstellt die Sicht auf das im Kern kommunikationstheoretische Problem. Das verleitet dazu ein Problem, dass zunächst zwischen zwei Personen besteht, vorschnell auf die Gesamtgesellschaft im Sinne von Weltgesellschaft hochzurechnen. Mit anderen Worten, ein hochgradig lokales Problem, wird als globales Problem behandelt. Dadurch wird es gleichsam kollektivistisch gerahmt, was es erst ermöglicht es als politisches Problem zu formulieren, von dem man glaubt, es ginge alle an. Das Problem an Lyotards Antwort besteht jedoch darin, dass er sich lediglich auf die Performativität der Kommunikation konzentriert und dadurch nicht mehr einfordern kann als konformes Verhalten durch Non-Konformität. Wenn Dissens aber nur für die Verteilung des Wissens sorgt, dann sagt Dissens noch nichts über die Annahme einer mitgeteilten Information. Zunächst wissen die beteiligten Personen nur, wie die Anderen einen bestimmten Sachverhalt sehen. Das bedeutet aber noch nicht, dass diese Sichtweisen akzeptiert werden. Paralogie als Dissenserzeugung bietet somit noch keine Antwort auf die Frage nach der Annehmbarkeit bzw. Legitimität eines Kommunikationsangebots. Sie lotet nur die Bedingungen für die Ablehnbarkeit bzw. Delegitimierung eines Kommunikationsangebots aus. Doch dazu ist es nicht notwendig so viel wie möglich zu wissen, sondern so wenig wie möglich. In der hohen Ablehnungswahrscheinlichkeit liegt die Macht der Unwissenheit.

Aus dieser Perspektive bekommt dann auch die große Erzählung vom Ende der großen Erzählungen ihre soziale Funktion. Nicht Veränderung der Regeln von Sprachspielen ist das Ziel dieser Erzählung. Wenn Wissen nur über Sprachspiele erzeugt und verteilt wird, dann kann die ausschließliche Delegitimierung durch Paralogie die Sprachspiele und damit auch bestehendes Wissen nur negieren, aber nicht verändern. Das Offenlegen von Paradoxien durch Paralogie stört nur die Strukturierung des Erlebens und die Orientierung des Handelns der beteiligten Kommunikationspartner. Dieses kommunikative Rauschen durch wiederholtes und unkonditioniertes Negieren führt zum schleichenden Sinnverlust und damit zur Paralyse der Beteiligten. Geht man jedoch davon aus, dass Wissen in Bezug auf einen gemeinsamen Fokus der Aufmerksamkeit das Erleben der Kommunikationspartner strukturiert und ihr Handeln orientiert, dann stellt Paralogie sicherlich eine konsequente, aber auch ziemlich perfide Möglichkeit dar, um die Widerständigkeit der menschlichen Umwelt gegenüber den Zumutungen sozialer Systeme zu fördern. Man sollte aber nicht vergessen, dass soziale Systeme die Aufmerksamkeit der beteiligten Menschen fokussieren und lenken. Der Protest gegen soziale Systeme ist damit immer auch ein Protest gegen das Erleben und Handeln anderer Menschen. Das durch Paralogie in guter Absicht erzeugte soziale Chaos wird nicht ohne Folgen auf die psychische Ordnung der beteiligten Personen bleiben. Die psychische Umwelt wird durch die Aufforderung zu unkonditionierten Negationen, wenn man so sagen darf, toxisch. Es scheint so, als hätte Lyotard die Unwissenheit als letzten Fluchtpunkt für politischen Protest auserkoren, um die Widerständigkeit der Menschen gegen die Zumutungen sozialer Systeme zu fördern. Die blinde Zerstörung aller Formen der Aufmerksamkeitsfokussierung bildet dann den gemeinsamen Fokus postmoderner Aufmerksamkeitsfokussierung. Darüber hoffen postmoderne Theorien die verloren gegangene gesellschaftliche Einheit wieder herstellen zu können. Man ist vereint im Nein-Sagen und in der daraus resultierenden Unwissenheit, Ignoranz, Angst und Misstrauen gegenüber seinen Mitmenschen. Das wirkt allerdings nur desintegrierend und schafft so erst die Probleme, die man vorgibt lösen zu wollen. Lyotards Bericht ist also nur ein Plädoyer für unbedingten Protest, also ein Ja zum Nein. Wozu man allerdings darüber hinaus noch Ja sagen sollte, bleibt unklar.

Sinnverlust erzeugt Angst. Psychologisch betrachtet, ist das postmoderne Sprachspiel daher nichts weiter als ein Spiel mit der Angst des Publikums. Damit hat Lyotard eigentlich nur auf das soziale Grundproblem hingewiesen, dass darin besteht, dass Menschen für ihre psychischen Operationen wechselseitig intransparent sind und dadurch die ständige Gefahr einer Divergenz des Erlebens besteht. Welche Mittel die Gesellschaft bereits zu Lösung dieses Problems entwickelt hat, dafür interessieren sich postmoderne Theorien bis heute nicht sonderlich. Der Protest dient nur zur systematischen Ablenkung der Aufmerksamkeit von den verfügbaren Formen der Aufmerksamkeitsfokussierung. Sie versuchen ihr Publikum durch die Fokussierung auf das soziale Grundproblem der ständig drohenden Divergenz des psychischen Erlebens zu petrifizieren und es in der Unwissenheit zu belassen oder sie erst herbei zu führen. Aufklärung sieht anders aus.

Aufgrund dieser offensichtlichen Selbstbezüglichkeit des postmodernen Protests verwandelt sich die heroische Pose des postmodernen Rebellen in eine leere Geste. Das schmücken mit höheren Werten und Zielen wird zu einer Strategie unter vielen, um sich interessant zu machen bzw. auf die eigene Probleme aufmerksam zu machen. Es handelt sich dabei um Verständnisprobleme. Die Radikalität, in der dies geschieht, macht sie aber allenfalls noch massenmedial interessant. Absolute Werte benötigen vollständige Aufmerksamkeit. Die bekommt man nicht mit konventionellen Mitteln. Diese Art von Aufmerksamkeit erregt man nur indem man durch bemüht deviantes Verhalten Grenzen überschreitet. Die daraus resultierenden Selbstdarstellungsformen wirken jedoch außerhalb massenmedialer Kontexte bestenfalls exzentrisch, meistens eher unpassend und schlimmstenfalls grotesk oder lächerlich [4].



V

Lyotards Lösungsvorschlag entpuppt sich also als Alternative, die keine Alternative ist. Sie bietet keine Lösung dem Problem postmoderner Orientierungslosigkeit Herr zu werden, sondern macht das Problem durch Delegitimierung nur noch schlimmer. Es fördert die soziale Desintegration. Dass es zu solch einem grandiosen Fehlschluss kommen kann, ist nur möglich, wenn bereits die Problemdiagnose wichtige Faktoren unberücksichtigt lässt. Lyotards Analyse stützte sich im Wesentlichen auf die Annahme, dass Wissensbestände heute maßgeblich durch Performativität stabil gehalten werden. Zwar wird mit diesem Begriff der Prozesscharakter von Kommunikation berücksichtig. Der Begriff der Performativität stellt allerdings nur auf die Form der Darstellung bzw. die Form der Mitteilung ab, ohne die mitgeteilten Informationen zu berücksichtigen. Die immense Heterogenität der gesellschaftlich verfügbaren Wissensbestände wird einfach ausgeblendet. Die Unterscheidung von Alltagswissen und wissenschaftlich produziertem Wissen erfasst diese Heterogenität nur sehr unzureichend. Wissen wird nicht nur im Alltag oder in der Wissenschaft benötigt. Wissen bildet die Voraussetzung damit Menschen ihr Erleben und Handeln in jeder Situation organisieren können und muss daher in jeder Situation als wechselseitige Erwartung mitlaufen. Es bietet die Möglichkeit zwischen Aktualität und Potentialität unterscheiden zu können. Durch Wissen kann eine Handlung mit möglichen Alternativen verglichen und dadurch in ihrem Sinn erschlossen werden. Für die Beteiligung an Kommunikation ist, abhängig vom Thema, immer das dazu passende Wissen erforderlich. Oder wie Luhmann es ausdrückt: „Ohne unterstellbares Wissen keine Kommunikation.“ (1990, S. 122) Empirisch wird es interessant bei der Frage, wie mit der Enttäuschung dieser Erwartung umgegangen wird.

An diesem Punkt ergibt sich eine merkwürdige Ambivalenz, denn es scheint so als würden Sinn und Wissen in ihrer sozialen Funktion zusammenfallen. Beide strukturieren das Erleben und orientieren das Handeln. Die Unterscheidung von Sinn und Wissen wäre demnach eine Tautologie – ein Unterschied, der keinen Unterschied macht. Wenn Sinn und Wissen so ähnlich erscheinen, muss man berücksichtigen, dass man sich bereits auf der Ebene der allgemeinen Theorie sozialer Systeme bewegt. Eine Unterscheidung verschiedener Wissensformen anhand ihrer Zugehörigkeit zu den verschiedenen Funktionssystemen der Gesellschaft ist zwar möglich, ändert aber nichts an der sozialen Funktion des Wissens. Diese ist so allgemein, dass sie für alle sozialen Systeme gilt. Damit wird man auf die drei Sinndimensionen verwiesen. In der Sozialdimension kann die Funktion des Wissens verortet werden, denn es strukturiert das Erleben der beteiligten Kommunikationspartner und orientiert damit auch ihr Handeln. Auch wenn unterschiedliches Wissen das Erleben der Kommunikationspartner anders strukturiert, die Funktion bleibt die Gleiche. Eine zweite Möglichkeit bietet die Sachdimension. Sinn ergibt sich aus dem Unterschied zwischen Aktualität und Potentialität (vgl. Luhmann 1984, S. 100). Das bedeutet, ein Beobachter schreibt einem stattgefundenen Ereignis erst im Vergleich zu anderen Möglichkeiten, die als funktionale Äquivalente in Frage gekommen wären, einen Sinn zu. Dies kann natürlich nur geschehen nachdem das betreffende Ereignis stattgefunden hat. Sinn kann also nur nachträglich zugeschrieben werden. Das bedeutet zugleich, dass ohne Vergleichsmöglichkeiten kein Sinn zugeschrieben werden kann. Die Kenntnis solcher Vergleichsmöglichkeiten wird üblicherweise als Wissen bezeichnet. Berücksichtigt man bei diesem Abgleich nicht nur das eigene Wissen, sondern auch das Wissen des Kommunikationspartners, kann man unter anderem erkennen, dass es nicht nur möglich ist mit gleichem Wissen ähnliche Sinnzuschreibungen vorzunehmen, sondern auch trotz unterschiedlichen Wissens zu ähnlichen Sinnzuschreibungen zu gelangen. An diesem Sachverhalt zeigt sich die funktionale Äquivalenz verschiedener Wissensformen für die Zuschreibung von Sinn. Mit anderen Worten, trotz unterschiedlicher Formen der Darstellung kann ein ähnlicher imaginärer Eigenwert konstruiert werden.

Damit dies möglich wird, muss man bereits erkannt haben, dass Beobachten bzw. das Fokussieren der Aufmerksamkeit nicht nur eine Anzeigefunktion hat, sondern darüber hinaus auch eine Darstellungsfunktion. Erst das Darstellen, und nicht nur das Anzeigen, macht es möglich auf verschiedenen Wegen zu ähnlichen Sinnzuschreibungen zu kommen. Dies kann man aber erst durch eine funktionale Analyse erkennen. Für diese Reflexion kann man nicht nur die eigenen Formen der Sinnzuschreibung berücksichtigen, sondern auch die der Kommunikationspartner. Mithin wird auf diese Weise der Sinn des Sinns reflektiert und damit die soziale und psychische Funktion verschiedener Formen der Aufmerksamkeitsfokussierung. Die wiederholte Reflektion der verschiedenen Beobachtungsformen macht den Sinn des Sinns beobachtbar und genau dadurch wird eine Sinnzuschreibung in verbreitungsfähiges Wissen transformiert. Es lässt sich daher sagen, Wissen ist reflexiv gewordener Sinn. Der damit markierte Unterschied zwischen Sinn und Wissen ist dann aber kein sachlicher mehr, sondern ein zeitlicher.

Erst die Berücksichtigung der Zeit macht es verständlich, warum verschiedene Personen so beobachten, wie sie beobachten. Damit ist zum einen die Entwicklung bzw. Differenzierung des Wissens gemeint und zum anderen die Verbreitung des Wissens zwischen den Menschen. Das Wissen darüber, wie Sinn zugeschrieben wird, macht es möglich auf das Unterscheidungsarrangement bzw. das Wissen des Kommunikationspartners zurückzuschließen, das zu einem bestimmten Beobachtungsergebnis geführt hat. Diese Unterscheidungsarrangements können differieren zwischen den Kommunikationspartnern. Erst Wissen als reflexiver Sinn macht es möglich die Differenzen in der Sozialdimension bzw. im Erleben der Beteiligten nicht nur zu registrieren, sondern auch zu verstehen. Wissen kommt damit eine entscheidende Rolle beim Umgang mit Konflikten zu, denn mit Wissen lassen sich die sozialen Differenzen aushalten ohne sie mit Gewalt zu beseitigen. Wenn nötig können sie auch kommunikativ überbrückt werden, indem man unter Berücksichtigung des Wissens des Kommunikationspartners darstellt, warum man selbst eine andere Sicht auf den gemeinsamen Fokus der Aufmerksamkeit hat.

Auf dieser Grundlage wird im Umkehrschluss auch noch einmal deutlich, dass die Ablehnung eines Kommunikationsangebots umso leichter fällt, je weniger man über das Thema weiß. Die Unfähigkeit zum Verstehen des Kommunikationspartners geht letztlich auf einen Mangel an Reflexion des eigenen Wissens im Vergleich zu anderen Personen zurück. Eine Schlussfolgerung daraus ist, dass gewaltfreie Konfliktbewältigung nur durch Wissenserweiterung bzw. Differenzierung möglich ist. Ohne Reflexion, also ohne Berücksichtigung des Erlebens der Kommunikationspartner, ist die Wahrscheinlichkeit relativ hoch, dass es zu gewaltsamen Konflikten kommt. Man könnte also sagen, die beste Gewaltprävention ist die Differenzierung des Wissens durch konsequente Reflexion. Psychologisch wird auf diese Weise das Unbewusste bewusst gemacht, soziologisch wird das Unthematisierte thematisiert. Eine postmoderne Theorie des Wissens, die sich nur darauf konzentriert, wie etwas dargestellt wird, ohne sich dafür zu interessieren, was dargestellt wird, trägt nur zur Vertiefung der Differenzen in der Sozialdimension bei ohne sie zu reflektieren. Damit trägt sie zugleich zur Erhöhung der Wahrscheinlichkeit für gewaltsame Konflikte bei. Durch die postmoderne Fixierung auf Wissen und Macht ist anscheinend das eigene Verhältnis zu Gewalt völlig ungeklärt geblieben – auch in Bezug auf die eigenen politischen Prätentionen.



VI

Die soziologische Systemtheorie Luhmanns versucht die Fragen nach der Konstitution von Sinn, seiner Verbreitung und seiner Annahme oder Ablehnung mit Hilfe der Unterscheidung von Information, Mitteilung und Verstehen zu beantworten (vgl. Luhmann 1984, S. 194ff.). Jede Handlung wird dabei als Synthese von drei Selektionen aufgefasst: die Wahl des Themas (Information), die Wahl des Verbreitungsmediums (Mitteilung) und die Wahl, was an einer vorhergehenden Handlung als Anschluss aufgegriffen wird (Verstehen) - also Mitteilung oder Information. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist zunächst die Unterscheidung von mitgeteilten Informationen und Formen der Mitteilung. Beides zusammen, egal ob Information und Mitteilung oder Kommunikationsmedien und Verbreitungsmedien, wird als Codierung bezeichnet. Für die Klärung, warum ein Kommunikationsangebot angenommen oder abgelehnt wurde, sind beide Aspekte einer Handlung relevant (vgl. Luhmann 1984, S. 197). Weder die Form der Mitteilung allein, noch die mitgeteilten Informationen allein, können erklären, warum ein Kommunikationsangebot angenommen oder abgelehnt wurde.

Mit Blick auf die Verbreitungsmedien interessiert ihre soziale Funktion, also warum gerade dieses und kein anderes gewählt wurde. Es kann z. B. einen gravierenden Unterschied machen, ob man etwas unmittelbar persönlich mitteilt oder schriftlich über Distanz. Bei letzterem fällt die Wahrnehmung als wichtige Informationsquelle für die Erlebens- und Handlungskoordination weg. Das Bewusstsein für die wechselseitige Beobachtbarkeit lässt nach, weil sich die Kommunikationspartner nicht mehr gegenseitig wahrnehmen. Aber auch bei Kommunikation unter Abwesenden muss man sich an den Handlungen des Kommunikationspartners orientieren und seine eigenen Handlungen daran ausrichten. Fehlende Wahrnehmung macht daher die Ausbildung eines Bewusstseins über die wechselseitige Beobachtbarkeit zu einer neuen Herausforderung, denn statt der Wahrnehmung müssen nun andere Informationen die fehlende Wahrnehmung kompensieren. Bei schriftlicher Kommunikation müssen daher viel mehr Informationen explizit angegeben werden als bei der Kommunikation unter Anwesenden. Die Mitteilungen werden mit Blick auf den Adressaten von Absender viel präziser ausgearbeitet. Das kostet mehr Zeit und psychische Energie. Audiovisuelle Kommunikationsmedien wie Filme können zwar die Informationslasten reduzieren, bleiben aber in ihrer Gestaltung genauso beobachterabhängig wie Sprache. Allgemein gilt, dass Kommunikation unter Abwesenden zur stärkeren Reflexion führt, da man überlegen muss, welches Wissen man beim Adressaten voraussetzen kann, damit er einen versteht. Am einfachsten ist dies noch bei bekannten Personen, am anspruchsvollsten dagegen wenn man sich an ein unbekanntes Publikum richtet.

Mit Blick auf die mitgeteilten Informationen interessiert, warum gerade diese Informationen mitgeteilt wurden und nicht andere. Darüber kann der subjektiv gemeinte Sinn des Absenders erschlossen werden. Das gilt für den Adressaten ebenso, wie für einen soziologischen Beobachter. Da man die Gedanken des Absenders nicht lesen kann, muss sich ein Beobachter auf das verlassen, was der Absender wie äußert. Anders ausgedrückt, muss man darauf vertrauen, dass der Absender weiß, was er wie mitteilen kann. Wenn das nicht möglich sein sollte, wäre es nicht möglich Erwartungen bezüglich des Absenders zu bilden. Im letzten Beitrag wurde daher folgendes Axiom aufgestellt: Verhalten ist codiertes Erleben. Es gilt also auf das Erleben des Absender auf der Grundlage seines beobachtbaren Verhaltens zurückzuschließen. Der Adressat und ein soziologischer Beobachter stehen hier vor derselben Herausforderung. Lediglich ihre Relevanzkriterien unterscheiden sich.

Der Verhaltensbegriff ist dabei nicht identisch mit dem Handlungsbegriff. Der Handlungsbegriff bezeichnet hier die von einem Beobachter gemachten Zuschreibungen, die er aus dem Verhaltensfluss heraushebt und als relevant für die Beurteilung der Situation erachtet. Was jedoch in einer Situation als relevant betrachtet wird, kann zwischen Absendern und Adressaten differieren. Der Begriff Verhalten bezeichnet dagegen alle beobachtbaren Ereignisse, die einer Person zugeschrieben werden können und für die Beurteilung einer Situation relevant sein könnten. Dies ist eine andere Form den Mitteilungscharakter allen Verhaltens zu betonen, der Watzlawick/Beavin/Jackson schließlich zu der berühmten Formulierung geführt hat, dass man nicht nicht kommunizieren kann (vgl. 2011 [1967], S. 58ff.). Handlungen bezeichnen also die Ausschnitte der Situation, die die Beobachter tatsächlich für relevant halten im Unterschied zu anderen Zuschreibungsalternativen, die durch das Verhalten der Kommunikationspartner noch möglich wären. Hier ergeben sich zwangsläufig Differenzen in den Zuschreibungen zwischen Absendern, Adressaten und soziologischen Beobachtern. Diese Differenzen im Erleben der beteiligten Kommunikationspartner machen es möglich, dass man in den Verhaltensbegriff das Nicht-Erleben der Beteiligten mit inkludieren kann. Wenn das Verhalten eines Absenders sein Erleben der Situation ausdrückt, dann schließt es das Nicht-Erleben des Absenders bzw. seinen blinden Fleck mit ein.  Denn im Verhalten zeigt sich genauso, was man nicht erlebt bzw. für relevant hält. Dies kann dem Adressaten auffallen und er kann es gegebenenfalls thematisieren.  Mit anderen Worten, der vom Absender gemeinte Sinn einer Handlung kann vom verstandenen Sinn des Adressaten abweichen. Mit der Unterscheidung von Verhalten als beobachtbar und potentiell relevant und Handlung als beobachtet und aus der Perspektive eines der Beteiligten tatsächlich relevant wird dieser Perspektivendifferenz Rechnung getragen. Wenn man davon ausgehen muss, dass gemeinsam geteilte Sinnhorizonte heute ein extrem unwahrscheinlicher Fall ist, sind solche Differenzen erwartbar und sie sind zugleich auch der Anlass, warum die Kommunikation weitergeht. Trotzdem bleibt die empirische Frage, wie die beteiligten Kommunikationspartner mit diesen Differenzen umgehen.

Die Funktion von Handlungen im Rahmen des Kommunikationsprozesses ist es, die Aufmerksamkeit des Adressaten auf das gemeinsame Zentrum der Aufmerksamkeit zu lenken. Um zu klären, wie das geschieht und was der subjektiv gemeinte Sinn des Absenders sein könnte, wird an einer Handlung, wie bereits gesagt, mit der Unterscheidung von Mitteilung und Information angesetzt. Eine Analyse der Codierung eines Kommunikationsangebots wäre demnach unvollständig, würde man sich nur auf die Form der Mitteilung oder nur auf die mitgeteilten Informationen konzentrieren. Postmoderne Theorien haben sich zu sehr auf die Verbreitungsmedien konzentriert und dabei die Frage nach den mitgeteilten Informationen vernachlässigt. Dieser performative Bias postmoderner Beobachtungen lenkt die Aufmerksamkeit eines Beobachters zwangsläufig auf die beteiligten Personen und nicht auf die überindividuellen Regeln, an denen die Personen ihr Handeln orientieren. Das Problem postmoderner Theorien liegt in der fehlenden Differenzierung zwischen Sach- und Sozialdimension. Die Zeitdimension bzw. Verstehen als dritte Selektion kann dann erst gar nicht in den Blick kommen.

Kommunikationstheoretisch rücken also Konflikte und deren Bewältigungsstrategien in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Konflikte entstehen, sobald mitgeteilte Informationen durch den Adressaten nicht als Prämissen für die weitere Kommunikation angenommen werden. Die Annahme eines Kommunikationsangebots zu motivieren, ist die Funktion der verschiedenen Kommunikationsmedien, wie Wahrheit, Geld, Macht, Intimität, Transzendenz, Aufmerksamkeit etc.. Um sie voneinander unterscheiden zu können, werden die einzelnen Kommunikationsmedien jeweils als Lösungen eines spezifischen sozialen Problems betrachtet. Also muss danach gefragt werden, für welches soziale Problem ein Kommunikationsmedium eine Lösung ist. Den Einstieg dafür bietet die Unterscheidung von vier Konstellationen im Rahmen einer Interaktionssituation, je nachdem ob die beteiligten Kommunikationspartner Beobachter (Ego) oder Beobachteter (Alter) sind und als erlebend oder handelnd beobachtet werden [5]. Bei diesen vier Konstellationen können Annahme- bzw. Anschlussprobleme in der Kommunikation auftreten. Damit ist ein soziales Problem zunächst aber nur formal, aber noch nicht inhaltlich bestimmt. Denn es kommt vor, dass mehrere Kommunikationsmedien an einer Problemkonstellation ansetzen. So kann sowohl Transzendenz, gegenwärtig das Kommunikationsmedium der Religion, als auch Wahrheit, gegenwärtig das Kommunikationsmedium der Wissenschaft, das Problem lösen, dass Alter sein Erleben mitteilt und Egos Annahme des Kommunikationsangebots davon abhängt, ob Ego aufgrund von Alters mitgeteilten Informationen, den Eindruck hat, ähnlich zu erleben wie Alter. Inhaltlich wird hier eine Unterscheidung nach der Gültigkeit des kommunizierten Wissens vorgenommen. Während mit dem Kommunikationsmedium Transzendenz unveränderbare, letztgültige Wahrheiten behauptet werden, wird mit dem Kommunikationsmedium wissenschaftlicher Wahrheit vorläufiges, methodisch gesichertes Wissen behauptet. Dieses Wissen steht immer unter dem Vorbehalt der Änderbarkeit. Dieser Unterschied leitet sich nicht aus der formalen Problemkonstellation ab, sondern er muss induktiv aus der Beobachtung der Kommunikation erschlossen werden. Dies gilt auch für die Beobachtung bzw. Unterscheidung der anderen Kommunikationsmedien. Mit der Identifikation des jeweiligen Bezugsproblems eines Funktionssystems hat man zugleich den jeweiligen Kontext identifiziert, der den Rahmen für das Geschehen bildet. Diese Identifizierung gelingt aber nicht, wenn man sich nur an der Form der Mitteilung orientieren würde. Um diesen Unterschied beobachten zu können, muss man sich auf die mitgeteilten Informationen einlassen. Auf die Verwechslungsgefahren, die sich aus der Multifunktionalität der Kommunikation selbst ergibt, wurde bereits im letzten Beitrag eingegangen.



VII

Historisch betrachtet, war dieser Unterschied zwischen Wissenschaft und Religion aber nicht zu jeder Zeit in gleicher Weise von Bedeutung wie gegenwärtig. Das gilt allgemein für die Unterschiede zwischen allen Funktionssystemen der Gesellschaft. Im letzten Beitrag wurde dargestellt, dass Kommunikation funktional zunächst relativ undifferenziert war. Ein Kommunikationsangebot konnte mehrere Kommunikationsmedien auf einmal nutzen, um die Annahme zu motivieren. In segmentär differenzierten Gesellschaften gelang den Stammesmythen eine solche Leistung. Durch eine ansteigende Bevölkerungszahl stieg jedoch auch der Koordinationsbedarf, denn je mehr Personen sich an der Kommunikation beteiligen, desto größer wird auch das Risiko der Ablehnung. Ein erster Entwicklungsschritt wurde sicherlich erreicht als die Integration der Stammesmitglieder nicht mehr über die reine alltägliche Anwesenheit und wechselseitige Beobachtung geleistet werden konnte. Die Erfindung der Schrift und danach des Buchdrucks sind die entscheidenden Innovationen, die es erlaubten eine Handlungskoordination zu realisieren, ohne dass die Kommunikationspartner anwesend sein müssen. Solange nur wenige Mitglieder der oberen Schichten Lesen und Schreiben konnten, ließen sich neue Organisationsstrukturen einrichten, mit denen die Handlungen einer weit größeren Anzahl an Personen koordiniert werden konnten. Zugleich brachte dies jedoch eine stärkere hierarchische Rollendifferenzierung mit sich. Die segmentären Koordinationsformen differenzierten sich zu hierarchischen Koordinationsformen weiter. Damit einher ging zwar eine stärkere funktionale Trennung einzelner Kommunikationsmedien. Trotzdem dominierten immer noch die Kommunikationsmedien Macht und Transzendenz die Kommunikation. Sie begrenzten die Ablehnungsmöglichkeiten und führten zu einer hierarchischen Gesellschaftsstruktur, mit entsprechenden politischen und/oder religiösen Rollen an der Spitze der Gesellschaft.

Die Erfindung des Buchdrucks und die danach einsetzende langsame Alphabetisierung der mittleren und unteren Schichten bis ins 20. Jahrhundert hinein, erhöhten sukzessiv die Ablehnungsmöglichkeiten. Verstärkt wurde dies noch durch die damit einhergehende immer stärkere arbeitsteilige Rollendifferenzierung innerhalb der Gesellschaft. Religionen und Nationenkonzepte wurden plötzlich als kontingente Kommunikationsangebote beobachtbar, die man annehmen oder ablehnen konnte. Mithin erwiesen sich religiöse und politische Weltdeutungskonzepte als funktional äquivalent. Faschismus, Kommunismus und ihre diversen nationalen Einfärbungen entpuppten sich als adäquate Ersatzreligionen, ohne allerdings ihr Konfliktpotential zu verlieren. Doch es hat sich inzwischen gezeigt, dass auch wirtschaftliche, wissenschaftliche, künstlerische oder auch durch Liebe inspirierte Weltdeutungskonzepte das Potential haben zu einem geschlossenen Weltbild ausbaufähig zu sein. Solchen geschlossenen Weltbilder, die eine soziale Funktion bis zur Totalität hypostasieren, liegt implizit immer die Vorstellung einer stratifizierten bzw. hierarchischen Gesellschaftsstruktur zugrunde. Deswegen müssen sie im historischen Vergleich als vormodern betrachtet werden. Nichts desto trotz boten die modernen Kommunikationstechnologien auch solchen vormodernen Weltbildern die Möglichkeiten ihre Annahme zu motivieren. Trotz des erheblichen emanzipatorischen Potentials, das neue Verbreitungsmedien mit sich bringen, bieten sie zugleich auch die Möglichkeit bestehende Ordnungen zu stabilisieren und alternative Angebote wirksam zu unterdrücken. Mehr Öffentlichkeit durch neue Verbreitungsmedien wird damit zu einem zweischneidigen Schwert. Sie kann zu mehr Kontingenz in der Kommunikation führen, aber genauso gut kann es zur schlichten Präsentation eines Weltbildes genutzt werden, um es gleichsam alternativlos erscheinen zu lassen.

Alle Weltbilder, die das Primat einer gesellschaftlichen Funktion behaupten, wurzeln in der Vorstellung einer hierarchischen Gesellschaftsstruktur. Doch obwohl sie das Primat einer sozialen Funktion propagieren, weist die Vielzahl solcher Kommunikationsangebote bereits auf ein wesentliches Merkmal der modernen Gesellschaft hin. Wenn mehrere Ordnungsvorstellungen ein solches Primat mit mehr oder weniger guten Gründen behaupten können, dann ist ihre Konkurrenz möglicherweise ein Hinweis darauf, dass keines davon einen legitimen Anspruch auf eine hierarchische Organisation der Gesellschaft beanspruchen kann. Kein einzelnes soziales Funktionssystem allein kann es auf der Ebene der Weltgesellschaft leisten das Erleben und Handeln aller Menschen zu koordinieren. Die Vorstellung von der Organisierbarkeit der Weltgesellschaft wird damit obsolet. Jegliche gleichsam externen Haltepunkte für Kommunikation, wie biologische, geographische, standesmäßige Herkunft oder Konfession, wurden zweifelhaft und die einzelnen sozialen Funktionen, wie Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Kunst, Erziehung, Liebe etc., konzentrierten sich bei der Handlungskoordination der Kommunikationsteilnehmer nur noch auf sich selbst. Zugeschriebene Merkmale, wie z. B. die ethnische Herkunft, sollten eigentlich keine Rolle mehr dabei spielen, wie jemand seine Arbeit ausführt, wie jemand liebt, was jemand für wahr hält, was jemand für schön hält etc.. Durch die operative Schließung der einzelnen Funktionssysteme orientieren sie sich nur noch an den eigenen zweckbezogenen Kriterien, um ihre Leistungen so gut wie möglich für ihre soziale und menschliche Umwelt zu erfüllen. Dies wurde möglich, weil die Orientierung an systemfremden Kriterien wegfiel und dadurch Energiereserven frei wurden, die nun auf die Entwicklung systemeigener Kriterien konzentriert werden konnten. Im Laufe dieser Entwicklung erkannte man, welche Informationen für die eigene Leistungsfähigkeit relevant sind und welche nicht und es entwickelten sich die Konditionalprogrammierungen der Funktionssysteme. Die Lösung eines sozialen Problems kann nicht bedingungslos erfolgen, sondern ist immer an situationsspezifische Bedingungen gebunden, die gegebenenfalls erst ermittelt werden müssen.

Die einzelnen Funktionssysteme der Weltgesellschaft konsolidierten sich als gleichberechtigt und nicht durcheinander ersetzbare. Es entsteht eine Heterarchie der sozialen Funktionen. Zugleich muss jedes Funktionssystem darauf vertrauen, dass auch jedes andere Funktionssystem sich nur noch an sich selbst orientiert, denn nur wenn jedes sich auf die Erfüllung seiner sozialen Funktion konzentriert, kann das auch jedes andere Funktionssystem. Müssten die einzelnen Funktionssysteme wieder systemfremde und irrelevante Informationen berücksichtigen, würde der Energiebedarf erneut steigen und die menschliche Umwelt in einem stärkeren Maße in Anspruch nehmen. Dies wäre z. B. der Fall, wenn jedes einzelne Funktionssystem kontrollieren müsste, ob die anderen ihre Funktion erfüllen. Das hieße systemfremde Kriterien zu berücksichtigen, die für die Erfüllung der eigenen Funktion aus der Innenperspektive sinnlos sind. Müssten sie trotzdem berücksichtigt werden, würde dies erheblich viel Zeit und psychische Energie kosten. Durch die Konzentration auf die eigene Funktion gewinnt ein Funktionssystem seine operative Autonomie und die beteiligten Menschen haben nun freie Energiepotentiale. Damit einher geht eine größere Flexibilität der eigenen Operationen, egal ob soziale oder psychische Systeme, und einer stärkeren Abhängigkeit von der sozialen Umwelt. Die operative Autonomie der Funktionssysteme erlaubt den Menschen damit eine energieärmere und informationsreichere Teilnahme, weil die Relevanzkriterien und damit auch die Orientierungspunkte präziser bestimmt werden. Mit anderen Worten, dem Geschehen kann ein Sinn zugeschrieben werden.

Durch die heterarchische Beziehung der Funktionssysteme zueinander kann die Weltgesellschaft zur Selbstorganisation übergehen und Leistungssteigerungen in historisch bisher nicht gekanntem Ausmaß realisieren. Eine steuernde Spitze der Gesellschaft ist dafür nicht notwendig. Es muss allerdings betont werden, dass der Eindruck einer steuerbaren bzw. organisierbaren Gesellschaft nur ein Eindruck ist, der aufgrund bestimmter Formen von vormodernen Selbstbeschreibungen der Gesellschaft entstehen kann. Faktisch vollzog sich die Autopoiesis der Gesellschaft schon immer als selbstorganisierender Prozess. Das Erfordernis die einzelnen sozialen Funktionen zu koordinieren und das Primat einer Funktion zu bestimmen, entsteht erst auf der Ebene der Organisationssysteme. Integration im Sinne einer wechselseitigen Einschränkung von Freiheitsgraden findet erst auf dieser Ebene statt. Denn erst auf dieser Ebene lassen sich Erwartungen an die Leistungen der anderen Funktionssysteme formulieren, damit die eigenen Leistungen optimal erbracht werden können. Nur dadurch gelingt eine wechselseitige Kontrolle der Funktionssysteme. Es handelt sich dabei nicht um eine direkte Handlungsübertragung, sondern um eine indirekte Einschränkung von Handlungsmöglichkeiten. Weil die einzelnen Funktionssysteme wechselseitig aufeinander angewiesen sind, gefährdet eine schlechte Funktionserfüllung nicht nur die anderen Systeme, sondern vor allem den eigenen Fortbestand. Negative Rückwirkungen der eigenen Operationen diszipliniert die weitere Operationsweise, weil Operationen mit negativen Rückwirkungen zukünftig unterlassen werden, um sich nicht selbst zu gefährden. Vereinfacht ausgedrückt, ermöglichen und beschränken sich die Funktionssysteme der Gesellschaft durch ihre wechselseitige Abhängigkeit gegenseitig. Darin liegt der Paradigmenwechsel der gesellschaftlichen Autopoiesis im Übergang von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung der Gesellschaft. Einseitige, gleichsam parasitäre Abhängigkeitsbeziehungen (vgl. Serres 1987 [1980]) werden durch wechselseitige Abhängigkeitsbeziehungen abgelöst.

Mit dem Internet hat sich schließlich ein Verbreitungsmedium entwickelt, dass die schriftlichen und audiovisuellen Kommunikationsmöglichkeiten in einer technischen Infrastruktur zusammenfasst und eine Informationsverbreitung in Echtzeit ermöglicht. Dadurch ist es gelungen die lokale Handlungskoordination zu erleichtern, wie eine Bandbreite an Phänomenen von Flash-Mobs bis zum Arabischen Frühling zeigen. Vergleichbare Koordinationsleistungen auf weltgesellschaftlicher bzw. globaler Ebene bleiben trotzdem unmöglich. Die hiesigen Proteste gegen die Überwachungsmethoden der National Security Agency, gleichsam zum weltgesellschaftlichen Problem hochstilisiert, sind ein gutes Beispiel für die Unmöglichkeit der globalen Handlungskoordination vorbei an den verschiedenen Funktionssystemen. Das Internet bietet damit zwar die prinzipielle Möglichkeit für die Etablierung einer weltgesellschaftlichen Öffentlichkeit. Was jedoch fehlt ist ein gemeinsamer Fokus der Aufmerksamkeit. Die kulturellen Unterschiede in einzelnen Regionen der Erde haben auch unterschiedliche Relevanzkriterien für bestimmte Themen etabliert. Die einzige Ausnahme ist vermutlich eine Bedrohung, die die Existenz der gesamten Menschheit gefährden würde. Deswegen versuchen vor allem politische Absender immer wieder eine solche Bedrohung herbei zu reden - bisher mit mäßigem Erfolg. Dem Internet kommt damit also nicht die einheitsstiftende und integrierende Funktion zu, die sich viele erhofft haben. Nach den Enthüllungen von Edward Snowden hat sich die Beurteilung sogar ins Gegenteil verkehrt. Statt Freiheit und Selbstbestimmung hat das Internet Kontrolle und Abhängigkeit gebracht.

Hier soll dieser gleichsam dialektischen Denkbewegung nicht gefolgt werden. Das Internet als relativ leicht zugängliche Informationsquelle ermöglicht die Beobachtung von einer Unmenge an Alternativen in Bezug auf die Lösung nahezu jedes Problems von dem Menschen betroffen sein können. Als eine Form von Öffentlichkeit ermöglicht es außerdem die wechselseitige Beobachtung von Kommunikationsteilnehmern und erhöht dadurch zugleich die Möglichkeiten für eine wechselseitige Einschränkung und Öffnung von Freiheitsgraden für den Fortgang der Kommunikation. Indem das Internet eine unüberschaubare Menge an Wissen zugänglich macht, erzeugt es auf der einen Seite ein nie gekanntes Ausmaß an Kontingenz [6]. Bei einem Informationsumschlag in Echtzeit löst dies eine dauerhafte Selbstverunsicherung der Gesellschaft aus. Auf der anderen Seite ermöglicht das Internet eine wechselseitige Beobachtung von Organisationen und Personen. Es liefert also auch Wissen über das Verhalten von anderen Menschen. Falls ein bestimmtes Verhalten als unerwünscht beobachtet wird, kann das Internet auch als ein Pranger fungieren. Dadurch kommt es trotz der großen Freiheiten, die das Internet anbietet, auch zu einer stärkeren Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten, denn die Möglichkeit negativer Thematisierung kann auch disziplinieren, d. h. zur Unterlassung bestimmter Handlungen führen.

Mit dem Internet haben sich die Ablehnungsmöglichkeiten so stark erweitert, dass sie in der Summe einer Negation der Gesellschaft gleichkommen. Aus dieser Vorstellung speisten sich vermutlich die utopischen Hoffnungen in Bezug auf das Internet. Mithin hat das Internet aber nur die Möglichkeiten zum Kommunizieren mit Abwesenden erhöht. Dadurch müssen Protestbewegungen im Internet, die eine Änderung der Gesellschaft oder eines ihrer Funktionssysteme zum Ziel haben, relativ folgenlos für die Kommunikation ohne Internet bleiben. Zumindest in demokratisch verfassten politischen Systemen kann via Internet Kontingenz und Ablehnung ohne weitere Konsequenzen artikuliert werden. Um tatsächliche Veränderungen anzustoßen, muss sich ein Kommunikationsangebot – und auch eine kommunizierte Ablehnung oder Kritik ist ein Kommunikationsangebot – in Situationen ohne Internet bewähren. Im Umkehrschluss bedeutet das allerdings auch, Zustimmung bzw. Annahme lässt sich via Internet genauso folgenlos kommunizieren – solange bis die Filter-Blase platzt. Gesellschaftskritik muss deswegen heute, um gesellschaftliche Wirkungen entfalten zu können, den Umweg über Interaktionssysteme und Organisationssysteme nehmen. Erst was sich auf dieser Werbe- bzw. Motivationstour bewährt hat, kann bis auf die Ebene der Weltgesellschaft wirksam werden und Veränderungen anregen. Obgleich dies das Ziel jedes Gesellschaftskritikers ist, bleibt es ein extrem unwahrscheinlicher Fall. Denn es stellt sich die Frage, welches soziale Problem eine solche weltgesellschaftliche Relevanz besitzen könnte, dass sie die Aufmerksamkeit aller Menschen erregt.

Denkbar wäre die fehlende Einheit der Gesellschaft, mithin das Band, dass die Menschen miteinander verbindet. Augenscheinlich führt die Evolution der modernen Gesellschaft aber nicht zu mehr Gleichheit, sondern nur zur Verstärkung bestehender Differenzen zwischen den Menschen. Möglicherweise liegt aber genau darin das einzige gemeinsame Merkmal zwischen den Menschen -  in ihren Unterschieden bzw. in ihrer Vielfalt oder Diversität. Eine moderne Lösung kann daher nicht mehr in einer Eliminierung dieser interpersonellen Unterschiede bestehen, sondern nur darin, wie man trotz der fundamentalen Divergenz der Beobachterperspektiven auf eine Konvergenz der Perspektiven hinarbeiten kann. Während kollektivistische Gemeinschaften personelle Unterschiede als Negation der anderen Mitglieder des Kollektivs und damit zugleich als Negation der Gemeinschaft aufgefasst haben, begreifen individualistische Gesellschaftsvorstellungen personelle Unterschiede als Möglichkeiten Informationen über den eigenen sozialen Status als Person zu erhalten. Hier stellt sich die Frage, ob kollektivistische Gemeinschaften überhaupt modern sein können, wenn sie die Gruppe oder das Kollektiv über ihre Mitglieder stellen?

Das Kunststück moderner Kommunikation besteht im Kern darin, wie man sowohl Zustimmung, Akzeptanz und Anerkennung und zugleich auch partielle Kritik bzw. Ablehnung kommunizieren kann, ohne den Kommunikationspartner in Verlegenheit zu bringen. Verlegenheit beeinträchtigt die Fähigkeit zur Kommunikationsteilnahme, weil sie die psychische Fähigkeit zur Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die aktuelle Situation stört. Sie kann deswegen zur Exklusion von Personen führen (vgl. Goffman 1971). Solche den Kommunikationspartner paralysierende Ereignisse gilt es zu vermeiden. Die Lösung dieses Problems besteht darin, die Kritik auf die Sachdimension bzw. das Thema zu beschränken und auf persönliche und beleidigende Kritik an Personen zu verzichten. Auf diese Weise können die beteiligten Personen ihre Aufmerksamkeit auf den Verlauf der Kommunikationssequenz und damit auf die Funktionsweise der jeweils gültigen Regeln und Konditionierungen fokussieren bzw. wie diese von den Beteiligten angewandt oder nicht angewandt werden. Erst durch das Anwenden und Ausprobieren der Regeln wird mit der Zeit auch die Meta-Regel erkennbar, mit der die Veränderung der Regeln annehmbar oder unannehmbar kommuniziert werden kann. Dies gelingt nicht durch ein unkonditioniertes, gleichsam absolutes Nein, dass die mitgeteilten Informationen und die mitteilende Person komplett ablehnt und sie damit in große Verlegenheit bringt. Ein solcher Kommunikationsbeitrag ist selbst unannehmbar und riskiert seinerseits im weiteren Verlauf der Kommunikation keine weitere Berücksichtigung zu finden.

Postmoderne Theorien haben jedoch genau diesen Weg der Kommunikation von undifferenzierter Ablehnung von Erwartungen und Personen eingeschlagen, deren Ergebnis letztlich die Internalisierung einer radikalen Verweigerungshaltung ist. Es werden nicht nur bestimmte Sinnofferten abgelehnt, sondern jeglicher sozial konstituierter Sinn. Auch auf diesem Weg zeigt sich nochmals, dass die Diagnose des Sinnverlusts ein durch postmoderne Theorien selbstgeschaffenes Problem ist, das auf eine unzureichende Differenzierung von Sach-, Sozial- und Zeitdimension zurückgeht. Sicherlich kann nicht bestritten werden, dass das hohe Maß an sozialer Kontingenz zu einer radikalen Infragestellung allen sozial konstituierten Sinns geführt hat. Kontingenz bzw. fehlende Notwendigkeit forciert aber nur das Problem, welches Kommunikations- bzw. Sinnangebot annehmbar ist. Dies ist heute zum einen eine Frage persönlicher Präferenzen und zum anderen eine Frage der Beteiligung im Rahmen von Kommunikationsverfahren. Es handelt sich also um einen rekursiven Prozess der gegenseitigen Irritation von psychischen und sozialen Systemen.

Entscheidend wird dann die Frage, wie die Annahme eines Kommunikationsangebots motiviert wird. Unter modernen Kommunikationsbedingungen erfolgt die Motivation im Rahmen von ergebnisoffenen Verfahren, die zunächst die Katalyse von Informationen aus der Umwelt anregen. Allen beteiligten Personen wird die Gelegenheit gegeben ihre Sicht auf den gemeinsamen Fokus der Aufmerksamkeit darzulegen. Es wird also zunächst Kontingenz erzeugt, um daran anschließend die Notwendigkeit einer bestimmten Lesart der erhobenen Informationen zu begründen ohne die betroffenen Personen als ganze abzuwerten oder gar zu negieren. Eine Voraussetzung für das Funktionieren derartiger Verfahren ist, dass alle beteiligten Personen ihr Erleben des verhandelten Sachverhalts mitteilen. Wie laienhaft oder professionell das geschieht, spielt zunächst keine Rolle. Entscheidend ist, dass überhaupt etwas mitgeteilt wird. Wobei natürlich nicht bestritten werden soll, dass bestimmte Regeln schon so kompliziert sind, dass sich nur noch professionelle Teilnehmer beteiligen können oder ein professioneller Vertreter engagiert werden muss, um Beachtung zu finden. Wer sich dem Verfahren dagegen komplett verweigert, der kann auch nicht erwarten berücksichtigt zu werden. Regeln sind letztlich nichts anderes als Codier- bzw. Darstellungsempfehlungen, welche Informationen wie mitgeteilt werden können. Selbst wenn Kompetenzunterschiede in der Regelanwendung zwischen den Beteiligten bestehen sollten, können diese Unterschiede nur durch die Beteiligung verringert werden. Insofern bestehen auch nur dann Chancen darauf die Regeln ändern zu können, wenn man sich beteiligt. Nur die tatsächliche Teilnahme sichert die weitere Teilnahmefähigkeit bzw. Inkludierbarkeit. Mit einer Totalverweigerung exkludiert man sich nur selbst und verspielt jegliche Möglichkeit auf eine Änderung der Regeln.



VIII

Nicht jedes Wissen ist in jeder Situation relevant. Deswegen muss situationsspezifisch und das heißt in Abhängigkeit vom zu lösenden sozialen Problem unterschieden werden, welche Wissensbestände relevant sein könnten – also politische, rechtliche, künstlerische, intime etc. Bei einem Flirt können sich z. B. politische Themen als äußerst störend auswirken. Wenn man sich nur auf die Form der Mitteilung konzentriert, kann leicht übersehen werden, dass die Anwendung bestimmter Regeln, z. B. von rechtlichen, davon abhängt, welche Informationen mitgeteilt werden. Das ist die entscheidende Schlussfolgerung aus Luhmanns Studie „Legitimität durch Verfahren“ (1983 [1969]).  Ein Gerichtsverfahren als Regelsystem ist zwar in sich geschlossen, denn es ist auf die Erfüllung einer bestimmten Funktion ausgerichtet. Diese Funktion kann ein System aber nur erfüllen, wenn es Informationen über seine Umwelt erhebt und unter dem Gesichtspunkt der Erfüllung dieser Funktion durchkalkuliert. Dies wird in Gerichtsverfahren dadurch gewährleistet, dass beide Konfliktparteien im Rahmen des Verfahrens ihre Sicht auf den verhandelten Sachverhalt darlegen können. Je nach dem welche Informationen von den Beteiligten mitgeteilt werden, können andere Regeln zur Anwendung kommen. Dieses Prinzip gilt auch für andere Funktionssysteme. Damit ein Verkäufer einem Kunden ein passendes Produkt anbieten kann, muss er die Erwartungen des Kunden kennen. Um zu beurteilen, ob eine Frau oder ein Mann der passende Beziehungspartner ist, muss man ihn kennenlernen. Weder dem Kunden sieht man an, was er will, noch der potentiellen Partnerin oder dem potentiellen Partner sieht man an, ob sie jeweils die Richtigen sind, sondern man muss sich mindestens mit ihnen unterhalten, um an die jeweils benötigten Informationen zu kommen.

Darin liegt der wesentliche Unterschied zu Techniken. Verfahren müssen aufgrund ihrer informationellen Offenheit für ihre Umwelt zwangsläufig offen im Ausgang des Verfahrens sein. Dieser hängt von den gewonnenen Informationen ab, die im Laufe des Verfahrens erhoben werden. Bei Techniken steht dagegen bereits am Anfang fest, wie das Ergebnis aussehen wird. Es genügt lediglich ein Auslöseereignis, um die Mechanik in Gang zu setzen. Danach läuft sie automatisch ab. Weitere Informationen aus der Umwelt, außer dem Auslöseereignis, sind nicht notwendig. Technik bietet also durch die Automatisierung der Abläufe nicht nur eine große Zeit- und Energieersparnis, sondern vor allem eine hohe Erwartungssicherheit bezüglich des Ergebnisses. Verfahren sind dagegen gerade aufgrund der Fortsetzungsbedingungen, die in den Regeln festgelegt sind, in Bezug auf das Ergebnis unbestimmt. Sportwettkämpfe genauso wie Sprachspiele sind in diesem Sinne beides Verfahren und keine Techniken. Wenn man davon ausgeht, dass in der modernen Gesellschaft das Wissen extrem ungleich verteilt ist und es genauso unwahrscheinlich ist, dass man zu einem Konsens kommen kann, dann wird in Verfahren der Dissens bzw. Konflikt selbst sowie die Mittel zu seiner Lösung institutionalisiert. Konflikte können heute nicht mehr einfach unterdrückt werden, sie müssen gelöst werden. Zugleich werden Konflikte durch Verfahren eingehegt bzw. isoliert, damit sich der Konflikt nicht auf die soziale Umwelt ausbreitet. Über die strengsten Formen der Konfliktlösung verfügt das Rechtssystem. Abgeschwächtere Formen finden sich aber auch in den anderen Funktionssystemen und in der unspezifizerten Kommunikation des Alltags. Sportliche Wettkämpfe sind Vorbilder, wie Konflikte gewaltlos ausgetragen werden können.

Wenn gemeinsam geteilte Wissensbestände heute sehr unwahrscheinlich sind, dann sind Konflikte sehr wahrscheinlich. Deswegen kann es heute nicht mehr darum gehen Konflikte zu vermeiden. Vielmehr sind informelle und formelle Verfahren für eine zivilisierte, gewaltlose Konfliktbewältigung notwendig, mit denen es gelingt etwas über das Erleben des Kommunikationspartners herauszufinden. Aufgrund der extremen Ungleichverteilung des Wissens ist es heute aber auch extrem schwierig überhaupt passende Kommunikationspartner zu finden. Sie finden sich heute nicht mehr automatisch, sondern das stellt sich erst im Verlauf der Kommunikation heraus und teilweise muss an der Passung noch gearbeitet werden. Auch dafür sind entsprechende Verfahren notwendig – wenn auch zumeist weniger formell. Dieses Problem stellt sich vermutlich nirgends in so verschärfter Form, wie bei intimer Kommunikation und der Anbahnung einer Liebesbeziehung. Es ist jedoch ein Problem, das sich heute in mehr oder weniger ausgeprägter Form bei jeder Kommunikationssituation stellt. Mithin ist auch nicht zwangsläufig eine Perspektivenkonvergenz das Ziel. Mindestens genauso häufig, wenn nicht sogar noch viel häufiger steht am Ende die Erkenntnis, dass man nicht zu einer Konvergenz der Perspektiven kommt, allenfalls in dem Punkt der unüberbrückbaren Divergenz. Aufgrund der vielen Ablehnungsmöglichkeiten sind Konflikte heute sehr wahrscheinlich. Wenn sich ein Konflikt nicht lösen lässt, dann gilt es das eben auszuhalten, ohne dass sich daraus ein politischer Konflikt entwickelt. Man geht dann einfach getrennte Wege.

Für sozialwissenschaftliche Forschung muss daraus die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die ausschließliche Konzentration auf die Performativität der Kommunikation bzw. auf die Form der Mitteilung nicht ausreicht, um zu einer angemessenen Diagnose über das moderne Wissen zu gelangen. Mit Blick auf Lyotards Bericht bedeutet das, er hat bei seiner Hochrechnung auf die idealen Kommunikationsbedingungen schlicht und einfach eine Variable vergessen, die jedoch bei einer angemessen gesellschaftstheoretischen Beurteilung der aktuellen Situation unbedingt berücksichtigt werden muss. Neben der Form der Mitteilung darf die mitgeteilte Information nicht unberücksichtigt bleiben. Ansonsten besteht die Gefahr, dass Verfahren mit Techniken verwechselt werden und damit der entscheidende Aspekt, nämlich die informationelle Offenheit psychischer und sozialer Systeme, übersehen wird [7]. Das Frage, wie es zu dieser informationellen Offenheit kommt, kann dann gar nicht gestellt werden. Informationelle Offenheit lässt sich nur über eine Ergebnisoffenheit der Kommunikation erreichen. Die Erwartungssicherheit in Bezug auf die Zukunft wird, mit anderen Worten, aufgelöst. Diese Ergebnisoffenheit ist allerdings nur möglich, wenn der Kommunikationsfluss durch Regeln in bestimmte Bahnen gelenkt wird. Dies gelingt über die Konditionalisierung des Fortgangs, indem Negationsmöglichkeiten in das Verfahren eingebaut werden. Auf diese Weise wird nicht nur eine Ergebnisoffenheit erreicht, sondern auch die Reflexion und Entscheidbarkeit von Sachverhalten gefördert.

Die einzige Regelmäßigkeit, die sich dann durch verschiedene Verfahren beobachten lässt, sind die Regeln, welche die Informationskatalyse auslösen und die erzeugten Informationen mit dem Ziel einer Entscheidung ordnen. Diese Konditionalisierungen können aber mit der Zeit selbst so komplex werden, dass eine vereinfachende Änderung der Regeln notwendig wird. Werden solche Änderungen häufiger notwendig, dann lassen sich auch noch Regeln für die Regeländerungen aufstellen. Je konsequenter diese Dynamisierung durch Verfahren vollzogen wird, desto mehr verlagert sich die Erwartungssicherheit von substantiellem Wissen hin zu Modalwissen, also Wissen über den Modus der Differenzierung des Wissens. Substantielle Annahmen darüber, was etwas ist, finden unter modernen polykontexturalen Beobachtungsbedingungen sehr schnell Widerspruch. Erst die Kenntnis der Darstellungs- bzw. Codifizierungsregeln in Bezug auf einen bestimmten Zweck macht Kontingenz erträglich und lässt zugleich Notwendigkeiten im Rahmen eines bestimmten Regelsystems erkennen. Die Ergebnisoffenheit der Kommunikation und die daraus resultierende Anpassung des Wissens an diese Bedingung sind das spezifisch Moderne der modernen Gesellschaft. Die moderne Gesellschaft stellt sich nun nicht mehr als ein monolithischer Block dar, sondern gerät in Fluss.



IX

Begreift man Gesellschaft als die Gesamtheit der stattfindenden Kommunikation zwischen Menschen und Kommunikation als Prozess, dann gilt es festzuhalten, dass die Gesellschaft immer ein Prozess war und immer sein wird. Dem gegenüber stellt dann die Vorstellung einer Gesellschaftsstruktur, einer feststehenden Ordnung, die beständig durch den Wandel bedroht ist, das Produkt einer bestimmten Form der Selbstbeobachtung der Gesellschaft dar. Es handelt sich gleichsam um semantische Artefakte. Selbstbeschreibungen sind Orientierungshilfen für das Erleben und Handeln. Sie stellen also eine bestimmte Form der Strukturierung des Erlebens und Orientierung des Handelns - also Wissen – bereit. Mit dem Übergang von der stratifizierten zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft hat zugleich ein Wechsel in den Wissensformen stattgefunden. Der Unterschied liegt in der Art und Weise, wie mit dem Prozesscharakter der Gesellschaft umgegangen wird. Vormodernes Wissen war im weitesten Sinne darauf angelegt eine bestimmte Ordnung aufrecht zu erhalten und Veränderungen wurden allenfalls in einem sehr begrenzten Rahmen zugelassen - vor allem Personenveränderungen im Rahmen von Übergangsriten (vgl. van Gennep 2005 [1909], Turner 2005 [1969]). Eine Veränderung der Gesellschaft war nicht vorgesehen. Dafür reichte in der Regel ein Faktenwissen, dass gleichsam als substantielles Wissen behandelt wird. Die Kommunikation ist dann durch Rituale sehr stark technisiert. Die Darstellungsfunktion der Kommunikation ist noch nicht als solche erkannt worden. Veränderungen in den Wissensformen wurden daher häufig von gewaltsamen Konflikten begleitet. Dies ändert sich im Laufe der Entwicklung hin zur operativen Schließung der einzelnen Funktionssysteme. Ein Sachverhalt ist nun nicht mehr einfach nur, wie er ist, sondern er stellt sich für verschiedene Beobachter in Abhängigkeit von ihren Formen der Aufmerksamkeitsfokussierung in einer bestimmten Art und Weise dar. Diese Formen sind jedoch kontingent. Deshalb sind nun Verfahren notwendig, die eine informationelle Offenheit für die menschliche Umwelt gewährleisten, so dass es möglich ist trotz verschiedener Formen der Aufmerksamkeitsfokussierung auf eine Konvergenz der Perspektiven hinzuarbeiten.

Daraus ergibt sich ein wichtiger Unterschied in der Art und Weise, wie Menschen die Beteiligung an Kommunikationsprozessen ermöglicht wird. Verfahren ermöglichen die Teilnahme der beteiligten Personen. Eine Voraussetzung dafür ist es jedoch, dass man darauf vertrauen kann, dass die Beteiligten wissen, was sie wollen, und wissen, wie sie es erreichen können. Es wird also ein hohes Maß an Reflexivität und Selbstorganisationsfähigkeit von den Beteiligten erwartet. Sind sie nicht in der Lage den Anforderungen der Verfahrensregeln gerecht zu werden, ist das Risiko einer Exklusion relativ hoch. Rituale werden hier als Techniken im oben erläuterten Sinne verstanden. Sie ermöglichen nur eine Teilhabe an Kommunikationsprozessen [8]. Die Beteiligten müssen zwar auch bei Ritualen wissen, was sie zu tun haben, ansonsten droht ein Ausschluss. Haben sie allerdings ihre Rolle für das Ritual eingeübt, müssen sie nichts weiter tun. Es ist keine Reflexion und keine darüberhinausgehende psychische Selbstorganisation notwendig. Mithin sind die beteiligten Personen austauschbar, eben weil sie nicht als Personen relevant werden. Für den Ausgang eines Rituals ist der einzelne Beitrag  einer Person unerheblich, denn der Ausgang steht schon zu Beginn fest. In vormodernen Zeiten hat diese Form der Beteiligung zum einen ausgereicht, um die bestehende soziale Ordnung aufrecht zu erhalten. Zum anderen, waren diese Kommunikationsformen vorübergehend überzeugend genug, um als annehmbar zu erscheinen. 

Mit einem zunehmenden Angebot an kontingenten Kommunikationsformen, konnten sie jedoch immer weniger überzeugen. Zum Teil lag es aber auch daran, dass die beteiligten Menschen durch bestimmte Ritualen einfach unterfordert wurden. Durch einfaches Wiederholen werden Handlungsabläufe eingeübt, gleichsam automatisiert und es kostet die Beteiligten mit jeder Wiederholung immer weniger psychische Energie sie auszuführen. Hatte man bei den ersten Malen noch das Gefühl man würde teilnehmen, transformierte sich die Teilnahme mit steigender Routine zur Teilhabe. Aufgrund der dabei freiwerdenden Energiereserven lässt sich die Aufmerksamkeit immer schlechter binden. Dadurch steigt die Ablehnungswahrscheinlichkeit für das betreffende Kommunikationsangebot. Verfahren gelingt es demgegenüber diese freiwerdenden Energien durch eine wesentlich stärkere Eigenbeteiligung zu binden. Mit anderen Worten, Techniken setzen psychische Aufmerksamkeit frei, weil sie Teilnahmemöglichkeiten eliminieren, Verfahren binden psychische Aufmerksamkeit, weil sie Teilnahmemöglichkeiten anbieten. Darüber hinaus steigt die Attraktivität von Verfahren auch dadurch, dass durch die Teilnahme die Beteiligten nicht nur als Rollenträger für den weiteren Fortgang der Kommunikation relevant werden, sondern als Personen. Dies zwar immer nur unter einem funktionsspezifischen Gesichtspunkt, dafür lässt die Ergebnisoffenheit viel Raum für eine Eigenbeteiligung, die einen Menschen nicht nur als Rollenträger erscheinen lässt, sondern als einen Charakter.

Dieses durch Verfahren sich auskristallisierende Modalwissen, also Wissen über Regeln und Meta-Regeln, erlaubt nun auch die Beobachtung von Veränderungsmöglichkeiten – zum einen in Bezug auf den Verlauf eines Verfahrens, zum anderen in Bezug auf die Verfahrensregeln selber. Veränderungschancen durch eigene Einflussmöglichkeiten ist ein wesentlicher Aspekt bei der Akzeptanz inhaltlich noch unbestimmter Entscheidungen, die erst durch das Befolgen bestimmter Regeln herbeigeführt werden. Veränderbares wird aber nur im Unterschied zu Unveränderbarem beobachtbar. Und auch das Unveränderbare lässt sich im Rahmen des Verfahrens noch erkennen. Es handelt sich dabei um das soziale Problem, dass durch das Verfahren gelöst werden soll. Nur in Abhängigkeit von einem unveränderlichem Wert, dem sozialen Problem bzw. dem daraus abgeleiteten Zweck, können Variationen der Lösungen kalkuliert werden. Was jedoch veränderbar bleibt, ist die Beschreibung des sozialen Problems. Und die Form der Beschreibung kann den Horizont möglicher Lösungen in gravierendem Maße begrenzen oder erweitern. Voraussetzung für das Erkennen von Veränderungsmöglichkeiten ist eine aktive Teilnahme und nicht nur eine passive Teilhabe. Denn nur die Teilnahme ermöglicht die Verteilung des ungleich verteilten Wissens unter den beteiligten Personen, was auch bedeutet, dass sich durch die Teilnahme die Personen selbst verändern. Für die Weltgesellschaft als Ganze bedeutet diese Entwicklung, dass die Ergebnisoffenheit der Kommunikationsformen und den sich eröffnenden Teilnahmemöglichkeiten immer mehr Elemente der gesellschaftlichen Semantik der freien Verfügbarkeit und Veränderbarkeit anheimgestellt werden. Auf diese Weise gelingt es gleichzeitig das Erleben einzelner Personen kommunikativ stärker zu berücksichtigen.

Damit werden alle normativen Erwartungen, also Erwartungen, die trotz Enttäuschung nicht geändert werden, in besonderem Maße begründungsbedürftig und müssen ihre Berechtigung in immer neuen Verfahren unter Beweis stellen. Ihre begründete Aufrechterhaltung stellen sie unter Beweis, wenn es ihnen gelingt bestimmte soziale oder psychische Veränderungen so zu gestalten, dass die damit zu lösenden Konflikte sich nicht als politische Konflikte auf die gesamte Gesellschaft ausweiten. Während Systemwechsel in der stratifizierten Gesellschaft häufig von blutigen Revolutionen begleitet wurden, gestaltet sich die weitere Veränderung der modernen Gesellschaft als unblutiger Evolutionsprozess, der sich autologisch vollzieht. Durch Selbstbeschreibungen, die ein entsprechendes Wissen über die modernen Kommunikationsbedingungen bereitstellt, kann die moderne Gesellschaft, wenn man das so sagen darf, ihre Evolution in die eigene Hand nehmen [9]. Und ebenso können auch Menschen ihre eigene persönliche Entwicklung in die eigene Hand nehmen.



X

Für den Zusammenhang von Wissen und Macht lässt sich nach dem Vorangegangenen folgendes festhalten. Wissen wurde weiter oben als ein Unterschied in der Zeit beschrieben. Dieser Unterschied beschreibt eine Entwicklung von Formen der Aufmerksamkeitsfokussierung und damit zugleich von Formen der Sinnkonstitution. Im Hinblick auf soziale und psychische Systeme werden dann Entwicklungsunterschiede beobachtbar. Eine strenge Kontrolle der Unveränderbarkeit von Wissensformen ist aber allenfalls unter den Bedingungen ständiger Anwesenheit, fehlenden Verbreitungsmöglichkeiten, wie Schrift und Buch, und fehlenden Außenkontakten möglich. Und nur unter diesen Bedingungen ist es möglich, dass alle Personen annährend über das gleiche Wissen verfügen und sich damit auch erschließen können, wie andere Personen einen bestimmten Sachverhalt beobachten. Veränderungen von sozialen Strukturen im Sinne der gemeinsam geteilten Semantik sind unter diesen Voraussetzungen so gut wie ausgeschlossen und die Veränderung von Personen nur im Rahmen dieser Semantik möglich. Diese Bedingungen kommen empirisch sehr selten vor. Da sich weder Menschen noch Kommunikation stillstellen lassen, sind gesellschaftliche Veränderungen bzw. Entwicklungen geradezu erwartbar – ohne dass dadurch allerdings bereits festgelegt wird, wie sich die Entwicklung vollzieht. Dass bedeutet weiterhin, dass mit der Zeit immer größere Unterschiede im Erleben der Menschen wahrscheinlich werden, weil Rollen sich immer weiter ausdifferenzieren und nicht jeder Mensch jede dieser Rollen in seinem Leben einnehmen muss. Die Lebensstile diversifizieren bzw. differenzieren sich immer weiter und die Formen die Welt zu beobachten diversifizieren sich genauso. Wissensformen für die Teilnahme an Kommunikation müssen diese Bedingungen berücksichtigen und können heute nicht mehr von der Eindeutigkeit der gemeinsamen Umwelt ausgehen und dass jeder Mensch sie genauso sieht. Vielmehr sind Beteiligungsformen notwendig, die der Verschiedenheit der Perspektiven Rechnung trägt und sie vergleichbar macht. Verfahrensregeln, wie formell oder informell auch immer, sind solche modalen Wissensformen, die auf die Dynamik sozialer Prozesse ausgerichtet sind, und letztlich auf die Anregung von Veränderungen. Diese Veränderungen können sowohl die Menschen, den Verfahrensablauf und die Verfahrensregeln selbst betreffen. Statische Selbstbeschreibungen, die den Anspruch der Unveränderbarkeit erheben, egal ob von Personen oder soziale Systemen stellen aufgrund ihres pseudo-normativen Anspruchs dann einen erheblichen Störfaktor für Kommunikationsprozesse dar, wenn sie nicht überzeugen können.

Vor dem Hintergrund einer dynamischen, sich selbst ändernden Gesellschaft, handelt es sich bei Wissen um die Fähigkeit Veränderungen anzuregen. Als solche handelt es sich noch nicht um Macht, denn Veränderungen können in Bezug auf Menschen freiwillig und unfreiwillig angeregt werden. Üblicherweise wird diese Fähigkeit, Veränderungen anregen zu können, als Macht bezeichnet. Wobei stillschweigend angenommen wird, dass Veränderungen immer nur unfreiwillig stattfinden. Da sich das Wissen sowohl auf soziale Systeme als auch auf Menschen beziehen kann, und somit Selbständerungen mit eingeschlossen sind, impliziert Veränderung aber nicht automatisch Unfreiwilligkeit. Doch genau unter dieser Annahme der Unfreiwilligkeit jeglicher Veränderung ist zumindest unter dem Einfluss alteuropäischer Denktraditionen, egal ob idealistischer oder materialistischer Spielart, jede Veränderungsmöglichkeit unter einen Generalverdacht geraten. Für die Veränderung von Personen haben sich inzwischen verschiedene Funktionssysteme, wie Erziehung, soziale Hilfe oder Krankenbehandlung, ausdifferenziert. Und die fachinternen wie auch die gesamtgesellschaftlichen Diskussionen über die Folgeprobleme dieser Funktionssysteme drehen sich letztlich immer um die Frage der Freiwilligkeit der durch diese Sozialsysteme angeregten Veränderungen von Personen.

Für die Veränderung der Weltgesellschaft kann es ein vergleichbares Funktionssystem nicht geben - auch wenn Soziologen häufig annehmen, dass darin ihre eigentliche Aufgabe läge. Gesellschaftsveränderung gelingt nur über Personenveränderung, denn ohne eine Veränderung der menschlichen Umwelt der Gesellschaft wird sich auch die Gesellschaft selbst nicht ändern. Doch auch hier stellt sich wieder die Frage nach der Freiwilligkeit dieser Veränderungen. Und gerade die von postmodernen Theorien behauptete Prämisse Wissen sei Macht, bietet eine hervorragende Möglichkeit dieser Frage aus dem Weg zu gehen, weil die Negation des Wissens zugleich eine Negation der Ausdrucksformen bedeutet, mit der man sein Erleben anschlussfähig kommunizieren kann. Nur weil man weiß, was man nicht will, heißt das noch lange nicht, dass man auch weiß, was man will. Doch unter dem Trugschluss, dass man durch gemeinsames Ablehnen bereits glaubt zu wissen, was alle wollen, wird es möglich gewaltsame Gesellschaftsveränderungen mit dem Einverständnis der Anhänger zu legitimieren. Was jedoch politisch motivierte Sozialwissenschaftler übersehen, ist der Umstand, dass Zwang und Gewalt noch keine Veränderungen anregen, sondern sie nur unterdrücken und verdrängen. Die einzigen Veränderungen, die auf diese Weise angeregt werden, sind soziale und psychische Regressionsprozesse. Denn nur weil man bestimmte Ausdrucksmöglichkeiten verbietet, bedeutet das noch nicht, dass das damit Ausgedrückte eliminiert ist. Die frei gewordenen Energien werden sich andere Ausdrucksmöglichkeiten suchen, die jedoch zumeist genauso klischeehaft ausfallen werden, wie die politischen Formen ihrer Unterdrückung selbst.

Um diese Gefahr für die weitere Entwicklung der Gesellschaft zu minimieren haben sich die verschiedenen Funktionssysteme ausdifferenziert. Zum einen bieten alle Funktionssysteme genügend Ausdrucksmöglichkeiten, sodass es prinzipiell unnötig geworden ist, seine Bedürfnisse und Interessen mit Gewalt gegen andere Menschen durchzusetzen. Damit werden auch die entsprechenden Wissensformen verbreitet, damit sich Personen selbst weiter entwickeln können. Zum anderen haben sich die Aufgaben der Veränderung und der Unterdrückung auf verschiedene Funktionssysteme verteilt. Auf der einen Seite haben sich die verschiedenen Funktionssysteme der Personenveränderung auf die freiwillige Veränderung konzentriert, denn Personenveränderung kann nur erfolgreich sein, wenn bei der betroffenen Person nicht zumindest eine Veränderungsbereitschaft besteht. Auf der anderen Seite haben sich die Funktionssysteme Politik und Recht darauf spezialisiert das Unterdrücken und Zwingen mit Gewalt selbst zu unterdrücken. Die einzigen Fälle, bei denen es nach wie vor legitim ist Zwang und Gewalt anzuwenden, sind Versuche, bei denen Veränderungen mit Gewalt angeregt oder verhindert werden.



XI

Stellt man bei der Beschreibung der Gesellschaft auf ihren fundamentalen Prozesscharakter ab, und kommt in Bezug auf die soziale Funktion des Wissens zu den vorangegangenen Schlussfolgerungen, dann stellt sich die Frage, welche soziale Funktion postmoderne Theorien in der modernen Gesellschaft erfüllen? Postmoderne Theorien interessieren sich genau wie die soziologische Systemtheorie für das Problem, unter welchen Bedingungen ein bestimmtes Kommunikationsangebot als annehmbar erscheint, mit dem Ziel herauszufinden, wie sich diese Bedingungen verändern lassen. Aufgrund einer mangelnden semantischen Differenzierung, die mit der systemtheoretischen Unterscheidung von Mitteilung und Information vergleichbar wäre, kam es zu einem folgenschweren Fehlschluss. Kommunikation wird als bloß performativ betrachtet und es erscheint im Grunde egal wie man sich an Kommunikation beteiligt. Hier sehen nun postmoderne Theoretiker die Möglichkeit durch naive und unreflektierte Negation aller Beobachtungs- und Ausdrucksformen eine radikale Verweigerungshaltung zu kultivieren, um die Funktionssysteme der Gesellschaft gleichsam in die Knie zu zwingen. Negationen regen aber noch nicht zwangsläufig Veränderungen an, speziell wenn nicht klar ist, was die Alternative zum Negierten sein soll. So bietet die große Erzählung vom Ende der großen Erzählungen lediglich eine schwache Orientierung für blinden Protest, ohne dass aus der Innenperspektive klar ist, was eigentlich das Ziel der angestrebten Veränderungen sein soll. Die durch den Protest aktivierten psychischen Energien bleiben ungebunden. Und entladen sich bei fehlender Reflexion und damit unterbleibender Neuausrichtung der psychischen Energien irgendwann in symbolischer und physischer Gewalt.

Die Art und Weise, wie Kommunikationsprozesse und damit auch Wissensproduktion und –verbreitung postmodern beobachtet werden, provoziert dieses Problem jedoch selbst herauf. Totalverweigerung wehrt äußeren Anpassungsdruck durch ausbleibende Differenzierung ab. Durch Unwissenheit lässt sich ein Kommunikationsangebot am Besten ablehnen und dagegen protestieren. Die mangelnde semantische Differenzierung zwischen Personen und Handlungen führt zugleich dazu, dass es für die Kritisierten geradezu unmöglich wird die Kritik anzunehmen. Sollte sich eine solch radikale Ablehnungshaltung bei allen Menschen durchsetzen und die Kommunikation wird nur noch von einer wechselseitigen Ablehnung dominiert, dann steuern die Kommunikationsverhältnisse stark in Richtung auf einen Krieg aller gegen alle zu. Es wäre nur eine Frage der Zeit bis zum Wechsel von symbolischer Gewalt zu physischer Gewalt. Die postmoderne Ablehnung aller Wissensformen führt langfristig zu ihrer Zerstörung. Sie beraubt die Menschen dadurch der Formen, die notwendig sind, um die Herausforderungen des Lebens zu meistern. Bei postmodernen Theorien handelt es sich daher um eine Form selbstverschuldeter Unmündigkeit. Sie unterstützen damit auch ein Menschenbild, das die Menschen als unreflektiert, emotional unreif und triebgesteuert betrachtet. Und aus eigener Kraft sind sie nicht in der Lage, diesen Zustand zu ändern. Postmoderne Theorien leben von der Illusion hier eine Alternative anbieten zu können. Diese Alternative besteht aber nur in der schlichten Behauptung dass Widerspruch etwas ändern könnte. Dem entsprechend gilt es nur noch öffentlich so aufmerksamkeitsträchtig wie möglich zu protestieren, um Gehör zu finden, egal worum es inhaltlich geht. Dabei handelt es sich zumeist um stures Beharren, in dem versucht wird jeden anderen performativ zu übertönen, z. B. durch Empörung, Skandalisierungen und Übertreibung. Eine beliebte Methode ist auch die Negation der Adressaten durch einfaches Niederbrüllen. Das Ergebnis solcher Kommunikationsformen ist eine soziale und psychische Regression. Das auf diese Weise entstandene soziale Chaos lässt sich dann nur noch durch eine archaische Terror- und Schreckensherrschaft wieder in Ordnung bringen. Gerade die scheinbare menschliche Unfähigkeit selbst für Ordnung zu sorgen, liefert die beste Legitimation für jeden autoritären Machthaber.

Die menschliche und gesellschaftliche Entwicklung scheint sich hier aus portmoderner Perspektive in einer Art Teufelskreis zu bewegen, aus dem es keinen Ausweg gibt. Die menschliche Natur scheint unveränderbar. Die Menschen sind dumm und bleiben dumm, unfähig ihre Triebe und Emotionen zu kontrollieren. Entsprechend müssen auch alle Formen der Handlungskoordination dazu dienen, diese zerstörerischen Triebe zu befriedigen. Postmoderne Theorien berücksichtigen allerdings nicht, dass sie selbst auch Formen der Erlebens- und Handlungskoordination sind und das Problem auch auf sie zutreffen würde. Wenn die Verhältnisse aber so unveränderbar sind, wie es sich aus postmoderner Perspektive darstellt, entpuppt sich die Hoffnung auf Veränderung als illusionär. Sie macht vor dem Hintergrund der Beschreibung einer unveränderlichen Welt keinen Sinn. Sie schürt nur Hoffnungen, die zwangsläufig enttäuscht werden müssen. Das führt zu Frustration und demotiviert langfristig jegliche Initiative. Darin liegt schließlich die politische Funktion postmoderner Theorien. Sie sind Demotivationsdiskurse, die jegliche Veränderbarkeit der Welt zugleich behaupten und in der Form ihrer Weltkonstruktion negieren. Nichts demotiviert stärker als Erwartungen, die nur enttäuscht werden können. Das aus diesem Weltbild resultierende postmoderne Spiel mit der Angst lässt nur die Wut, den Hass und die Hoffnungslosigkeit derjenigen gären, die daran glauben, und führt zu einer zynischen Einstellung gegenüber der Welt und zur Misanthropie gegenüber den Mitmenschen, weil jeder glaubt am Besten zu wissen, was für die anderen nicht gut ist. Das idealtypische Publikum, das sich durch solch eine Weltsicht angesprochen fühlt, ist zugleich das ideale Objekt autoritärer Herrschaftsformen – unentschieden, kritizistisch, willensschwach und jeglicher Handlungsmotivation beraubt. Das Ergebnis ist ein hyperkritischer Untertanengeist, der nur sehr genau weiß, was er nicht will, und sich deswegen auch von niemanden etwas sagen lässt. Aus dieser Unbezähmbarkeit entspringt aber zugleich auch die Sehnsucht nach einer übermächtigen Autorität, die einem vorschreibt, was man zu wollen haben soll [10].

Die postmoderne Kritik von Herrschaftsverhältnissen als Kritik von Wissensformen führt demzufolge erst das herbei, was sie eigentlich verändern will. In ihrer Kritik hypostasieren postmoderne Theorien Macht zum obersten Ordnungsprinzip der Gesellschaft. Auch wenn sie Macht kritisieren, gehen sie trotzdem von der Vorstellung einer stratifikatorischen bzw. hierarchischen Gesellschaftsstruktur aus, mit Macht als ordnender Kraft an der Spitze, der sich alle Menschen unterwerfen müssen. Die postmoderne Kritik der Macht stellt sich damit als das komplementäre Gegenstück zu den Machtverhältnissen dar, die kritisiert werden sollen. Die Kritik wird aus der Position der Machtunterlegenen heraus formuliert, ohne dass Veränderungen überhaupt als möglich betrachtet werden. Allenfalls ein Wechsel der Rollen von Machthaber und Machtunterlegenen ist aus dieser Perspektive denkbar. Damit bestätigt die postmoderne Machtkritik bloß die bestehenden Verhältnisse und lässt den Machtunterlegenen nur eine Handlungsmöglichkeit: die Abschaffung der bestehenden Verhältnisse durch Gewalt. Im historischen Vergleich handelt es sich dabei noch um eine vormoderne Beobachtungsweise. Die Postmoderne kann somit nicht als fortschrittliche, gleichsam nachmoderne Theorie betrachtet werden. Vielmehr handelt es sich um eine regressive Denkrichtung, die versucht gesellschaftliche Veränderungen abzuwehren, um die mit der Veränderung einhergehenden mitunter recht unangenehmen emotionalen und kognitiven Dissonanzen von vornherein zu vermeiden. Diese sind allerdings normale Erfahrung im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung. Die Zerstörung des Wissens durch postmoderne Beobachtungsweisen führt zur Dissoziation der Aufmerksamkeit und dem Freiwerden negativer psychischer Energien aufgrund von fortlaufender Enttäuschung der Veränderungserwartung. Das Ergebnis ist Verweigerung, Beharrung und schließlich Fatalismus und Demotivation.

Wenn Wissen Macht bedeutet, dann kann die Lösung nicht in der selbst herbeigeführten Unwissenheit liegen, denn sie impliziert zwangsläufig Ohnmacht. Dass man sich durch die selbstverschuldete Unmündigkeit der Macht entziehen kann, ist ein Trugschluss. Vielmehr liefert sie noch die passende Legitimation, um bestimmte Ziele gegen den Willen der Betroffenen durchzusetzen. Hinzu kommt in Zeiten des Internets als Verbreitungsmedium, dass man sich heute nicht mehr darauf berufen kann, etwas nicht gewusst zu haben. Man kann heute zu jedem beliebigen Thema im Internet – und nicht nur dort – recherchieren und sein Wissen erweitern, um anschlussfähig kommunizieren zu können. Das einzig verständliche Problem, was sich daraus ergibt, ist, wenn man etwas nicht verstanden hat. Das lässt sich wiederum durch weitere Kommunikationsteilnahme lösen.

Der auf postmoderne Weise kultivierte Untertanengeist legitimiert nur, wogegen er eigentlich protestiert. Die moderne Lösung kann daher nur in der Erziehung eines aufgeklärten und selbstbestimmten Menschen liegen, der sich nicht nur von seinen Trieben und Emotionen leiten lässt – ohne sie natürlich völlig zu ignorieren – sondern der selbstbewusst seine soziale Position in Bezug auf andere Personen reflektieren kann und mit ihnen, und nicht gegen sie, seine Ziele verwirklichen kann. Dazu gehört eine Menge an Wissen und ein verantwortungsvoller Umgang mit dem Kommunikationsmedium Macht. Diese Erkenntnis lässt sich allerdings nicht einfach nur theoretisch begründen. Um wirksame Handlungsorientierung bieten zu können, muss sie durch Teilnahme erfahren und gelernt werden. Sie lässt sich nicht erzwingen. Deswegen muss die moderne Gesellschaft auf die Selbständerungsfähigkeit der Menschen setzen und entsprechende Kommunikationsformen anbieten, die nicht nur eine passive und unbewusste Teilhabe, sondern eine aktive und bewusste Teilnahme der Menschen unterstützen, um sich selbst als veränderbar bzw. lernfähig erfahren zu können. Die wichtigsten Werte der modernen Gesellschaft, wie Individualität, Autonomie und Selbstbestimmung, können nur mit Hilfe solcher Kommunikationsformen erlebt werden, die eine Eigenbeteiligung der Menschen fordern. Die dissoziierte Beobachtungsweise postmoderner Theorien macht es jedoch unmöglich zu dieser Erkenntnis zu kommen oder durch Erfahrung zu lernen. Sie appellieren nur an die niedersten Instinkte der Menschen und können daher trotz der scheinbaren Komplexität nur äußerst primitive Formen der Erlebens- und Handlungskoordination hervorbringen. Zumeist handelt es sich dabei um Formen, die eine Teilnahme simulieren, aber nur eine Teilhabe ermöglichen. Postmoderne Kommunikation ist selbst nur eine Form von Pseudo-Teilnahme, da sie unfähig ist auf das Erleben anderer Menschen einzugehen. In der modernen Gesellschaft fördern postmoderne Theorien daher nur Selbstexklusion durch Regression. Sie stellen evolutionstheoretisch eine Gegenbewegung dar, die genau dadurch erst die Probleme schaffen, die sie zu lösen vorgeben.

Der Begriff postmodern entpuppt sich damit als Euphemismus, der Progressivität vortäuscht, aber im Kern radikal vormodern, ja anti-modern, und damit rückwärtsgerichtet ist. Es handelt sich aber nicht um das wilde Denken, wie es von Claude Levi-Strauss beschrieben wurde und auf das immer wieder auf romantisch verklärte Weise Bezug genommen wird, um die Unterschiede zwischen vormodernen und modernen Kommunikationsformen zu negieren (vgl. Latour 2008 [1991]). Zwar wird auch hier nicht bestritten, dass es eine Konstante gibt, die sich durch alle gesellschaftlichen Veränderungen hindurchzieht. Bei dieser Konstante handelt es sich um die Funktionsweise der Beobachtung bzw. Aufmerksamkeitsfokussierung durch unterscheidendes Bezeichnen. Konzentriert man sich aber nur auf die Gemeinsamkeiten zwischen den frühesten und den aktuellen Formen der Kommunikation, kann man leicht die Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen der Kommunikation übersehen. Diese Unterschiede zu ignorieren, hieße auch die Entwicklungen und Veränderungen der Gesellschaft zu negieren. Mehr noch, mit einer Theorie, die jegliche Unterschiede zwischen modernen und vormodernen Kommunikationsformen leugnet, unternimmt man den Versuch, egal ob gewollt oder nicht, die moderne Gesellschaft mit den Beobachtungsformen der segmentär differenzierten Gesellschaft zu beobachten. Oder vereinfacht ausgedrückt, man versucht die moderne Gesellschaft mit den Augen eines Wilden zu betrachten. Weil damit im Grunde genommen die Geschichte geleugnet wird, handelt es sich um ein regressives, entdifferenzierendes Denken. Zugleich kann es dann nicht überraschen, dass die moderne Gesellschaft unverständlich, ja sinnlos erscheint und dadurch verunsichert und überfordert. Weiter oben wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, dass die Postmoderne als wissenschaftliches Sprachspiel nur eine Klage über das Ende des Strukturalismus ist. Aufgrund des performativen Bias und der daraus abgeleiteten Negation historischer Entwicklungen ist die Postmoderne darüber hinaus auch noch eine persönliche Klage darüber, dass man die Welt und sich selbst nicht mehr versteht. Doch anstatt den Grund für diese Unfähigkeit bei sich selbst zu suchen, wird der Umwelt ihre Unverständlichkeit vorgeworfen und eine Veränderungserwartung an sie kommuniziert – andere Menschen mit eingeschlossen –, nämlich verständlicher zu werden. Durch das Beharren auf dieser Forderung ist die Folge eine Regression der gemeinsam geteilten Formen der Aufmerksamkeitsfokussierung. Der Hinweis auf die Heterogenität und Vielfalt der Lebensstile dient dann allerdings nur als kommunikatives Vehikel, um mitzuteilen, dass man selbst die Welt anders sieht als die Anderen. Diese Kommunikation reiner psychischer Selbstreferenz rechtfertigt jedoch nicht zwingend die begehrte Aufmerksamkeit. Der Begriff „postmodern“ ist kein Markenzeichen einer wie auch immer gearteten Avantgarde, sondern das Erkennungszeichen derer, die bereits den Anschluss verloren haben. Ironischerweise kann man auch damit noch Aufmerksamkeit erregen. Wie allerdings deutlich geworden sein sollte, anders als es sich die Betroffenen vorstellen.

Es geht letztlich nur darum eine Differenz im Erleben im Vergleich zu anderen Personen zu markieren. Damit sind postmoderne Theorien nichts weiter als ein Mittel, um Aufmerksamkeit auf sich als Person zu ziehen. Doch gerade der Ausdruck des eigenen verzerrten Erlebens in Form einer wissenschaftlichen Theorie, kann nicht darüber hinweg täuschen, dass es sich um die Betonung einer Differenz im Erleben handelt, die gerade durch eine methodische Vorgehensweise reduziert werden soll. Als Ausdruck reiner psychischer Selbstreferenz gelingt die Mitteilung des eigenen Erlebens nur um den Preis der vollständigen Negation aller anderen Menschen. Der radikale Kampf um Aufmerksamkeit lässt keine anderen Alternativen als sich selbst so aufmerksamkeitsträchtig wie möglich zu präsentieren. Dies gelingt am besten durch schrilles, übertriebenes und betont abweichendes Verhalten. Diese Formen der Mitteilung des eigenen Erlebens macht es aber noch lange nicht zu einem authentischen oder würdigen Verhalten. Das Bestehen auf der eigenen Unmündigkeit ist eher das Gegenteil. Außerdem besteht die postmoderne Methode, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, im Kern darin, sie durch Kritik auf andere zu lenken. Einfacher ausgedrückt: man fällt nur dadurch auf, dass man auf andere zeigt. Das gilt im Prinzip für alle Kontexte, egal ob wissenschaftlich, politisch oder persönlich. Man braucht wohl nicht viel Fantasie, um zu erkennen, dass das auf Dauer nicht funktionieren kann. Helmuth Plessner ging davon aus, dass jeder Ausdruck im Bemühen um Authentizität das Risiko der Lächerlichkeit in sich trägt (vgl. Plessner 2001 [1924], S. 70). Dieser Annahme folgend hat es den Anschein als spielt die Postmoderne volles Risiko [11]

All diese Probleme machen die Postmoderne zu einem unannehmbaren Kommunikationsangebot. Doch radikale Kritik bedeutet am Ende nicht nur radikale Negation der Menschen, sondern auch radikale Selbstverleugnung, um die performativen Widersprüche zu rechtfertigen, in die man sich durch diese Kommunikationsform selbst gebracht hat. Denn für die negativen Folgen des eigenen in guter Absicht ausgeführten Handelns will man erwartungsgemäß nicht verantwortlich sein. Und gerade das zeigt, dass es nicht darum geht durch sein Verhalten Aufmerksamkeit zu erregen, sondern es geht nur darum für das eigene chaotische Erleben anerkannt zu werden. Man möchte nicht nach dem, was man tut, beurteilt werden, sondern für das, was man glaubt zu sein. Weil das Verhalten des Absenders seinem Selbstbild widersprechen kann, benötigt man eine Form der Beobachtung, die systematisch von den mitgeteilten Informationen ablenkt. Deswegen wird die Performativität der Kommunikation in den Mittelpunkt gerückt. Dadurch wird verhindert, dass es dem Adressaten, sofern er diesen Beobachtungsmodus teilt, gelingt sich den Charakter des Absenders zu erschließen. Die Beobachtung von Menschen ohne die Berücksichtigung der mitgeteilten Informationen führt jedoch nicht zur Konstruktion von Personen, sondern zur Reduktion von Menschen auf Klischees.

Entscheidend ist nun, was eine solche klischeehafte Kommunikation über die zwischenmenschlichen Beziehungen aussagt. Watzlawick/Beavin/Jackson schreiben dazu: „Im Allgemeinen ist es so, dass die Definition der Beziehung umso mehr in den Hintergrund rückt, je spontaner und «gesunder» die Beziehung ist, während «kranke» (d. h. konfliktreiche) Beziehungen u. a. durch wechselseitiges Ringen um ihre Definition gekennzeichnet sind, wobei der Inhaltsaspekt fast völlig an Bedeutung verliert.“ (2011 [1967], S. 63) Die Überbetonung der Performativität der Kommunikation durch postmoderne Theorien hat den Zweck einer Störkommunikation, um die Deutungshoheit über die Mitteilungen zugunsten des Absenders zu verschieben. Es geht, mit anderen Worten, darum den egozentrischen Beobachtungsmodus gegen negatives Feedback, z. B. durch Kritik am eigenen Verhalten, zu immunisieren. Man möchte selbst bestimmen, ja kontrollieren, wie man von anderen Personen beobachtet wird. Hier macht sich nochmals der alte materialistische Glaube bemerkbar, dass die Wahrheit im Beobachtungsobjekt und nicht um Beobachter liegt. Welche fatalen Folgen dieser Glaube hat, zeigt sich erst bei der Übertragung auf zwischenmenschliche Beziehungen. Auf diese Weise wird der Mitteilungscharakter allen Verhaltens zu negiert. Es handelt sich damit um einen Versuch nicht zu kommunizieren. Watzlawick/Beavin/Jackson weisen darauf hin, dass man das Verhalten schizophrener Personen als Versuch interpretieren kann nicht zu kommunizieren (vgl 2011 [1967], S. 60). 

In diesem Punkt gleichen sich schizophrene und postmoderne Kommunikation. Beides sind Reaktionen auf den allgemeinen Mitteilungscharakter jeglichen Verhaltens. Es liegt daher der Verdacht nahe, dass die Camouflage politischer Kommunikation als wissenschaftliche Kommunikation nur dazu dient ein persönliches Problem zu bewältigen – nämlich die Angst davor, dass Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung der Person nicht übereinstimmen [12]. Da dies ein Problem ist, von dem alle Menschen betroffen sind, lässt es sich leicht als politisches Problem beschreiben, obwohl jeder selbst Lösungen dafür finden muss. Um dieses Problem zu lösen, versucht die Postmoderne einfach die Möglichkeit der Fremdbeschreibung zu eliminieren. Das Ergebnis ist dann ein ständiges Ringen um die Deutungshoheit über die zwischenmenschlichen Beziehungen. Worüber kommuniziert wird, spielt dabei keine Rolle mehr. Ziel ist nur das eigene Selbstbild gegen widersprechende Beobachtungen durchzusetzen, egal wie. Diese Abwehr zielt aber nicht mehr auf die Fremdbeobachtungen einzelner Personen, sondern auf die prinzipielle Möglichkeit von anderen Menschen anders beobachtet zu werden. Entsprechend provoziert eine solche Kommunikationsweise mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Konflikte, die weit über konkrete zwischenmenschliche Beziehungen hinausgehen. Mehr als den Konflikt als politisches Problem ständig weiter anzuheizen, ist allerdings praktisch nicht zu erreichen. Das reicht aber bereits, um eine Entscheidung zu verhindern. Durch die Fortsetzung des Konflikts erscheint man zwar als Störenfried. Bei der Präferenz für abweichendes Verhalten, kann man mit dieser Fremdbeschreibung aus postmoderner Sicht schon zufrieden sein. Mithin zeigt sich aber an der unterschiedlichen Bewertung der Rolle des Störenfrieds durch die Beteiligten die tiefe Konfusion auf der Inhalts- und der Beziehungsebene.

Als Form der Koordination des Erlebens und Handelns führt radikaler Protest daher zu einer schleichenden Entfremdung und Verdrängung des psychischen Selbst, weil dem eigenen illusionären, nur durch das, was man nicht ist, bestimmte Selbstbild der Vorrang vor den Sichtweisen anderer Personen gegeben wird. Die Betroffenen schneiden sich so von jedem Feedback aus der Umwelt ab und isolieren sich selbst. Man stößt hier nochmals auf den bereits im letzten Beitrag aufgezeigten Sachverhalt, dass es sich bei postmodernen Theorien um schizogene Semantiken handelt. Das man überhaupt bereit ist einen derart hohen Preis zu zahlen, liegt an der Annahme, dass es nur auf Performanz und nicht auf Inhalte ankommt. Kommunikation wird auf Mitteilungen reduziert und dann komplett negiert. Es handelt sich um einen Kategorienfehler bei der Beobachtung von Kommunikationsprozessen. Das ist der blinde Fleck der Postmoderne, um den sie sich immer wieder dreht, ihn aber nicht bestimmen kann. Aufgrund der Auswirkungen auf die Beziehungsebene ist es aber inzwischen auch extrem schwer geworden diesen Fehler einfach zu korrigieren, ohne das Gesicht zu verlieren. Deswegen wird diese Störkommunikation nicht aufhören, sondern sich immer tiefer in die eigenen Widersprüche verwickeln bis sie aufgrund von mangelnder Motivation von alleine aufhört.

Dass man mit postmodernen Theorien vor allem seinem egozentrischen Erleben Ausdruck verleiht, liegt an dem unreflektierten Negationsgebrauch, der dann die beschriebene Radikalität annimmt und im Sinnverlust endet. Radikale Negation negiert absolut. Eine Differenzierung ist dann nicht mehr möglich, sondern nur eine Entdifferenzierung, weil Negationen Unterschiede, die Unterschiede machen, negieren. Diese Prozesse sind bisher nur von Psychologen als Abwehr- und Verdrängungsprozesse beschrieben worden. Abwehr- und Verdrängungsprozesse sind ebenso Formen der Aufmerksamkeitsfokussierung, wenn auch zunächst nur psychischer Art. Sobald derartige Beobachtungsformen aber von mehreren Menschen geteilt werden, dann lassen sich entsprechende Prozesse auch an der Kommunikation studieren. Postmoderne Kommunikation ist ein Paradebespiel dafür. Der Zusammenhang von Abwehr bzw. radikaler Kritik, Regression und Exklusion scheint nicht nur auf Personen beschränkt zu sein, sondern auch beim Gebrauch bestimmter Semantiken aufzutreten. Mithin motivieren erst solche Semantiken die Betroffenen zum uncodierten Ausdruck der eigenen, zumeist negativen Emotionen. Das weist darauf hin, dass man es mit einer personenunabhängigen Regelmäßigkeit zu tun hat. Bei dieser Regelmäßigkeit handelt es sich um die Operationsweise der Aufmerksamkeitsfokussierung im Sinne des unterscheidenden Bezeichnens. Negationen sind in jede Unterscheidung eingelassen und jede Bezeichnung kann, muss aber nicht, etwas negieren. Dieser und der vorherige Beitrag haben sich der Exploration der Symptome des Negationsgebrauchs gewidmet. Der kommende Text wird schließlich die Funktion der Negation für die Sinnkonstitution und –zerstörung genauer untersuchen.


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[1] Hier wird zum einen auf Gregory Batesons Informationsbegriff (vgl. 1982 [1979]) und zum anderen auf Randall Collins‘ Begriff der emotionalen Energie (vgl. 2004) Bezug genommen.

[2] Siehe für ein Beispiel dieses naiv-realistischen Vertrauens in die eigenen Beschreibungen bzw. Berichte das Kapitel über das Verfassen riskanter Berichte in Latour 2007 [2005].

[3] Seitdem hat man sich darauf konzentriert die Unbestimmtheit weiter auszudeuten, um plausibel zu machen, dass nicht nichts doch etwas ist (vgl. Gamm 2000) – bisher ohne nennenswerte Ergebnisse. Dass man mit dem Unbestimmtheitsbegriff versucht einen Zustand sinnhafter Entropie zu bezeichnen, wurde bis heute nicht registriert. Beim Begriff der Unbestimmtheit handelt es sich nur um einen Verlegenheitsbegriff und die beschriebene Flucht aus der Kategorie (vgl. Gamm 1994) ist lediglich eine Ausweichbewegung. Beides lässt sich darauf zurückführen, dass nicht erkannt wurde, dass man sich eigentlich mit dem Entropieproblem befasst.
Gleichwohl bieten die Beobachtungen der Unbestimmtheit immer wieder Anlass um Altbekanntes zu wiederholen, d. h. sich mit altbekannte Namen und Theorien zu beschäftigen. Reine Wiederholung erzeugt aber nur Redundanz. Die wiederholte Nennung erzeugt keine zusätzlichen Informationen, sondern verweist bloß auf dasselbe. Man berauscht sich nur noch an purer Selbstreferentialität, um sich der eigenen Identität zu versichern – und verliert sie genau auf diesem Wege.

[4] Siehe zur Selektionslogik der Massenmedien, die abweichendes Verhalten jeglicher Art belohnt, den Text „Die Beobachtung der Beobachtung – Exkurs über Massenmedien“.


[6] Siehe dazu ausführlicher den Text „Die Öffentlichkeit der Gesellschaft & das Internet“.

[7] Die aktuelle Mode der praxeologischen Theorien begehen genau denselben Fehler. Sie konzentrieren sich ebenfalls nur auf die Form der Mitteilung und nicht auf die mitgeteilten Informationen.

[8] Siehe für die Unterscheidung von Teilhabe und Teilnahme Lorenzer 2000 [1970], S. 226f.. Die dortige psychoanalytische Unterscheidung von unbewusster Teilhabe und bewusster Teilnahme wird hier soziologisch gewendet, um zwei Formen der menschlichen Kommunikationsbeteiligung voneinander zu unterscheiden.

[9] Luhmann spricht zunächst mit Blick auf die Selbstbeschreibung der Soziologie von reflektierter Autologie (vgl. 1997, S. ), was nichts anderes bedeutet als dass die Soziologie ihre Selbstbeschreibung und damit auch sich selbst ändern kann. Csikszentmihalyi entwarf auf der Grundlage seines Flow-Konzepts bereits vier Jahre vor Luhmann eine Theorie autologischer Evolution, mit welcher er die Möglichkeit beschrieb, wie Menschen den weiteren Verlauf der Evolution aktiv mitgestalten können (vgl. 2005 [1993]).

[10] Es dürfte kein Zufall sein, dass ausgerechnet Alexander Dugin den Eurasismus – eine von ihm maßgeblich mit entworfene Form eines russischen Faschismus – als das Nonplusultra des Postmodernismus bezeichnet. Siehe hier. Nur die Schwachen und Hilflosen sehnen sich nach einem starken Führer, der ihnen das gibt, was sie sich selbst nicht geben können – eine Kollektividentität, die genau die Macht und überlegene Stärke verspricht, die sie als Personen niemals erreichen werden. Es geht also letztlich um eine sozial akzeptable Identität, mit der man als Person seine Anschlussfähigkeit behält. Da man diese durch das eigene Verhalten nicht erreichen kann, muss man auf zugeschriebene und unveränderliche Merkmale zurückgreifen. Das ist nichts Neues und auch in den deutschen Kommunikationsgewohnheiten tief verwurzelt. Die überhöhte Gruppenidentität dient nur zur Herabsetzung und Negation derjenigen, gegen die man sich mit dieser Identität zu schützen versucht. Das man solche herabsetzenden Kommunikationsgewohnheiten in Deutschland immer noch für relativ normal hält, erklärt wohl zu einem großen Anteil die weit verbreitete Sympathie für die russische Ukraine-Politik. Die russische Propaganda appelliert an alte und tiefsitzende misanthropische Beißreflexe. Behilflich dabei ist immer wieder die Selbstbeschreibung als Opfer, aus der sich dann sehr leicht eine vermeintliche moralische Überlegenheit und eine Legitimation für Gewalt ableiten lassen.

[11] Diese Alles-oder-Nichts-Strategie lässt sich am ehesten mit dem All-In-Spielzug beim Texas Hold Em Poker vergleichen. Beim All In kann ein Spieler alle seine Chips auf einmal setzen. Man riskiert mit diesem Spielzug aus dem Spiel auszuscheiden, wenn man verliert. Normalerweise soll ein solcher Spielzug anzeigen, dass man ein extrem gutes Blatt hat. Doch je nachdem wie viele Chips der jeweilige Spieler noch hat, muss dieser Spielzug nicht zwingend auf ein gutes Blatt hindeuten. Wenn ein Spieler über sehr viele Chips verfügt, kann er so Druck auf seine Gegner ausüben, denn die würden bei einem Call ausscheiden, wenn sie kein besseres Blatt haben. Mit anderen Worten, mit vielen Chips kann man Bluffen selbst wenn der Gegner den Bluff durchschaut. Solange der kein gutes Blatt hat, wird er die Konfrontation nicht riskieren. Sollte ein Spieler dagegen nur noch sehr wenig Chips haben, dann wird er irgendwann gezwungen sein die Initiative zu ergreifen. Entsprechend kann er dann nur noch versuchen seine wenigen Chips durch ein All In zu verdoppeln, um im Spiel zu bleiben. Dann muss ein All In auch nicht zwangsläufig ein gutes Blatt bedeuten. Je weniger Chips man hat, desto weniger kann man es sich dann noch leisten auf ein gutes Blatt zu hoffen. Bei wenigen Chips ist ein All In also eher ein Zeichen der Verzweiflung. Sollte man nun versuchen ein komplettes Spiel oder Turnier nur mit diesem einen Spielzug zu bestreiten, so kann man hundertprozentig sicher sein, dass man nicht gewinnt. Je öfter man All In geht, desto unglaubwürdiger wird das Image des Spielers und desto wahrscheinlicher wird ein Call – d. h. der Gegner will das Blatt sehen mit dem man All In geht. Die abschreckende Wirkung des All In wird immer geringer, je öfter dieser Spielzug von einem Spieler gewählt wird. Diskursanalytiker würde hier wahrscheinlich schon von Macht sprechen, was allerdings nur eine sehr ungenaue Beschreibung wäre. Kommunikationstheoretisch fährt die Postmoderne eine solche Strategie mit jedem Spielzug All In zugehen, was vor allem unter wissenschaftlichen und imagepflegetechnischen Gesichtspunkten äußerst riskant ist und den Call geradezu provoziert.

[12] Siehe zu dieser Angst ausführlich den Text „Die Beobachtung der Beobachtung 2 – Kommunikation und Image“.


Literatur
Bateson, Gregory (1982 [1979]): Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
Collins, Randall (2004): Interaction Ritual Chains. Princeton University Press New Jersey
Csikszentmihalyi, Mihaly (2005 [1993]): Dem Sinn des Lebens eine Zukunft geben. Eine Psychologie für das 3. Jahrtausend. 3. Auflage Klett-Cotta Stuttgart
Gamm, Gerhard (1994): Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang der Moderne. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
Gamm, Gerhard (2000): Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
Goffman, Erving (1971): Verlegenheit und soziale Organisation. In ders.: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. S. 106 - 123
Kuhn, Thomas S. (1976 [1969]) Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 2. revidierte Auflage Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
Latour, Bruno (2007 [2005]): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
Latour, Bruno (2008 [1991]): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
Lorenzer, Alfred (2000 [1970]): Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse. 5. Auflage Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
Luhmann, Niklas (1983 [1969]): Legitimation durch Verfahren. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 
Luhmann, Niklas (1990): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
Luhmann, Niklas (1993): Die Paradoxie der Form. In: ders: Aufsätze und Reden. Reclam Stuttgart. S. 243 – 261
Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
Lyotard, Jean-François (2012 [1982]): Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. 7. überarbeitete Auflage Passagen Verlag Wien
Plessner, Helmuth (2001 [1924]): Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
Serres, Michel (1987 [1980]): Der Parasit. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
Spencer-Brown, George (1997 [1969]): Laws Of Form. Gesetze der Form. Bohmeier Verlag Lübeck
Turner, Victor (2005 [1969]): Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Neuauflage Campus Verlag Frankfurt am Main/New York
van Gennep, Arnold (2005 [1909]): Übergangsriten (Les rites de passage). 3. erweiterte Auflage Campus Verlag Frankfurt am Main/New York
Watzlawick, Paul/Beavin, Janet H./Jackson, Don D. (2011 [1967]): Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. 12. unveränderte Auflage Verlag Hans Huber Bern

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